
Proteste gegen Rousseff
Am Sonntag (Ortszeit) haben mehr als eine Million Brasilianer für einen Rücktritt von Staatspräsidentin Dilma Rousseff protestiert. Ihre Arbeiterpartei PT steht im Mittelpunkt massiver Korruptionsvorwürfe um den halbstaatlichen Energieriesen Petrobras. Seit Wochen schon schweigt die Präsidentin zu den Vorwürfen. Das Urteil des Befreiungstheologen Frei Betto: Rousseff fehle es an der nötigen Empathie – und am Charisma, mit dem Volk zu kommunizieren.
Aktualisiert: 12.07.2015
Lesedauer:
Am Sonntag (Ortszeit) haben mehr als eine Million Brasilianer für einen Rücktritt von Staatspräsidentin Dilma Rousseff protestiert. Ihre Arbeiterpartei PT steht im Mittelpunkt massiver Korruptionsvorwürfe um den halbstaatlichen Energieriesen Petrobras. Seit Wochen schon schweigt die Präsidentin zu den Vorwürfen. Das Urteil des Befreiungstheologen Frei Betto: Rousseff fehle es an der nötigen Empathie – und am Charisma, mit dem Volk zu kommunizieren.
Die Proteste am Wochenende fanden unerwartet hohen Zuspruch. Am Copacabana-Strand von Rio sollen 25.000 Menschen demonstriert haben, im südbrasilianischen Curitiba 80.000, in Vitoria rund 100.000. Die größte Demo fand in Sao Paulo statt, der Hochburg der konservativen Opposition. Hier forderten bis zu eine Million Menschen den Rücktritt der Präsidentin.
Ermittlungen gegen Politiker
Seit April 2014 kommen immer neue Details über massive Veruntreuungen bei Petrobras ans Licht. Hunderte Millionen Euro sollen von Politikern und Unternehmern abgezweigt worden sein; Rousseffs PT allein soll rund 185 Millionen Euro bekommen haben. Vor wenigen Tagen eröffnete die Bundesstaatsanwaltschaft Ermittlungen gegen mehr als 50 Politiker.
Rousseff saß während der Regierung ihres Vorgängers und Mentors Luiz Inacio Lula da Silva (2003–2010) im Aufsichtsrat des Energieriesen. Auch am Sonntagabend mied die Präsidentin die Öffentlichkeit. Stattdessen kündigten zwei ihrer Minister Maßnahmen gegen Korruption und eine baldige politische Reform an. „Die Regierung reagiert in dieser Krise nicht gut“, urteilt Frei Betto. „Dilma hätte am Sonntagabend persönlich vor die Menschen treten müssen, statt ihre Minister vorzuschicken.“

Bereits nach den Massenprotesten im Juni 2013, als Millionen Brasilianer eine Erneuerung des politischen Systems forderten, hatte Rousseff Reformen angekündigt. Allerdings wurde keine davon umgesetzt, auch nicht die Reform der umstrittenen Wahlkampf- und Parteienfinanzierung.
Kirche fordert Reformen
Mitte 2014 startete Brasiliens katholische Kirche daraufhin gemeinsam mit der Anwaltskammer OAB eine Unterschriftenaktion zur Umsetzung von Reformen. Bisher kamen 400.000 Unterschriften zusammen. „Die Kirche positioniert sich in dieser Frage zu schüchtern“, urteilt Betto. „In den 70er und 80er Jahren war sie da schon mal viel prophetischer. Aber Dank der Ernennung konservativer Bischöfe unter den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. kann sie heute nicht mehr so auftreten.“
Eine deutliche Absage erteilt der Dominikaner, der unter Ex-Präsident Lula kurzzeitig für die Umsetzung von Sozialprogrammen zuständig war, aber auch den Rufen nach einem Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff. „Wäre sie weg, übernähme ihr Vize Michel Temer, eine Person mit noch viel weniger Glaubwürdigkeit als Dilma“, so Betto.
Geradezu geschockt zeigt sich der Theologe, der unter der Militärdiktatur (1964–1985) jahrelang im Gefängnis saß, angesichts der vereinzelt geäußerten Forderung nach einer Intervention der Militärs. „Das ist der Horror. Das wäre, als ob man in Deutschland die Rückkehr der Nazis fordern würde.“ Brasilien verfüge über eine konsolidierte Demokratie, „und die gilt es zu verteidigen“.
Die Regierung müsse sich nun ihrer alten Basis nähern, mahnt Betto. Statt sich wie früher auf die Gewerkschaften, Landlosenbewegungen, kirchliche Organisationen etc. zu stützen, habe sich die Arbeiterpartei auf eine „promiskuitive Allianz“ mit anderen Parteien eingelassen – was letztlich zur aktuellen Krise geführt habe. „Die PT muss sich wieder den Sozialbewegungen zuwenden – sie waren es, die Lula und Dilma überhaupt erst an die Macht gebracht haben.“
Von Thomas Milz (KNA)