„Die Armen brauchen einen Platz am Verhandlungstisch“
Welthandel ‐ Bischof Oscar Cantu von Las Cruces in New Mexico repräsentiert das neue Gesicht der katholischen Kirche in den USA: Der 49-Jährige stammt aus einer kinderreichen Einwandererfamilie aus Mexiko und stellt Sorge um die Armen, Umwelt und Menschenwürde ins Zentrum seiner Verkündigung. Im Interview äußert sich Cantu, der in der US-Bischofskonferenz das Komitee für Internationale Gerechtigkeit, Frieden und menschliche Entwicklung leitet, über das TTIP-Handelsabkommen, soziale Gerechtigkeit und den Friedensprozess im Nahen Osten.
Aktualisiert: 12.07.2015
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Bischof Oscar Cantu von Las Cruces in New Mexico repräsentiert das neue Gesicht der katholischen Kirche in den USA: Der 49-Jährige stammt aus einer kinderreichen Einwandererfamilie aus Mexiko und stellt Sorge um die Armen, Umwelt und Menschenwürde ins Zentrum seiner Verkündigung. Im Interview äußert sich Cantu, der in der US-Bischofskonferenz das Komitee für Internationale Gerechtigkeit, Frieden und menschliche Entwicklung leitet, über das TTIP-Handelsabkommen, soziale Gerechtigkeit und den Friedensprozess im Nahen Osten.
Frage: Bischof Cantu, Papst Franziskus stellt das kapitalistische Wirtschaftssystem infrage, wenn es nicht im Dienst der Menschen steht. Was bedeutet das für die Handelspolitik?
Cantu: Die Bischöfe geben keine spezifischen Empfehlungen für die Ausgestaltung der Handelspolitik. Wir schlagen Prinzipien vor, die auf der Soziallehre der katholischen Kirche gründen. Die Menschen stehen dabei ganz vorn, nicht die Politik, Profite oder Unternehmen. Es muss um das Wohl der Betroffenen gehen.
Frage: Was bedeutet das in der Praxis?
Cantu: Wir schauen genau, ob bestimmte Teile der Bevölkerung etwas von den Änderungen haben oder nicht. Nehmen wir einmal die Rechte der Eingeborenen in Zentralamerika. Da gibt es Unternehmen, die Mineralien abbauen und sehr wenig Rücksicht auf die Menschen nehmen – ob es um die Zerstörung von Lebensräumen, die Bewahrung ländlicher Gemeinschaften oder um Arbeitnehmerrechte geht. Wir müssen deren Rechte schützen.
Frage: Zurzeit werden zwei große Handelsabkommen verhandelt, das transpazifische TTP- und das transatlantische TTIP-Abkommen. Welchen Einfluss nimmt die Kirche darauf?
Cantu: Wir ergreifen keine Partei in die eine oder andere Richtung, sondern erinnern an Prinzipien wie Nachhaltigkeit, Schutz lokaler Gemeinschaften, Arbeitnehmerrechte und die Sorge um die Schöpfung. Das Gewinnstreben muss in der Perspektive des Gemeinwohls gesehen werden. Dazu gehört auch, dass die Stimmen der Betroffenen gehört werden und dass die Verhandlungen transparent sind.
„Es geht um die Würde und Anliegen aller Menschen, nicht nur derer, die auf einen Profit hoffen. Transparenz ist deshalb so wichtig.“
Frage: Viele Menschen in Europa haben den Eindruck, dass sich die USA in umwelt-, bildungs- und gesundheitspolitischen Fragen schwertun. Sie fürchten ähnliche Verhältnisse in ihren Länden. Haben Sie Verständnis dafür?
Cantu: Absolut. Die Leute haben ein Recht darauf zu erfahren, in welcher Weise sie betroffen sein werden. Transparenz ist vor allem dann essenziell, wenn in diesen Handelsabkommen das Gemeinwohl auf dem Spiel steht. Es geht um die Würde und Anliegen aller Menschen, nicht nur derer, die auf einen Profit hoffen. Transparenz ist deshalb so wichtig.
Frage: Selbst um den Preis, dass es am Ende kein Handelsabkommen gibt?
Cantu: Kein Handelsabkommen ist besser als ein schlechtes Handelsabkommen. Wenn es das Leben der Menschen oder ihre Gesundheit bedroht, dann sollte man besser darauf verzichten. Das Thema ist zu wichtig, um nicht alle Umsicht walten zu lassen.
Frage: Bei TTIP verhandeln zwei große Wirtschaftsräume, die weite Teile des Welthandels bestimmen. Sehen sie eine Gefahr, dass die armen Länder außen vor bleiben?
Cantu: Wenn zwei so starke Handelsblöcke zusammenkommen, besteht die Sorge, dass sie nur ihre eigenen Interessen sehen. Diese Sorge hat auch Papst Franziskus geäußert, als er forderte, die Armen nicht weiter an den Rand zu drängen, während die ohnehin schon Mächtigen noch reicher werden. Deshalb ist es so wichtig, dass die Armen einen Platz am Verhandlungstisch haben.
Frage: Haben Sie es mit Ihren Ansichten nicht selbst bei einigen Katholiken schwer?
Cantu: Das ist Teil der prophetischen Natur der Kirche. Dieses Element der frohen Botschaft ist unbequem. Es ist nicht einfach, nach sozialer Gerechtigkeit zu streben. Danach zu leben, ist nicht der einfachste Weg, und schon gar kein Rezept für hohen und schnellen Gewinn.
Frage: Gibt es in den USA genügend Diskussion über die Handelspolitik und ihre Konsequenzen?
Cantu: Nein, darüber wird zu selten und nur bruchstückhaft diskutiert. Papst Franziskus hat hier sicher einiges angestoßen. Wir brauchen diese Debatte zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Verantwortung für die Schöpfung. Auf dieser Ebene können wir vielleicht auch die Konservativen in den USA erreichen.
Frage: Gehören Einwanderer-Rechte auch in Handelsverträge? Meist werden darin ja die Grenzen für das Kapital aufgehoben, während die Zäune für Migranten höher werden.
Cantu: Wir haben zweierlei Maß in den USA. Einerseits wollen wir billige Arbeitskräfte, geben ihnen aber keine Rechte. Das muss sich ändern. Wir sollten bei Handelsabkommen aber darauf beharren, dass niemand sich gezwungen fühlen sollte, aus wirtschaftlichen Gründen seine Heimat zu verlassen, schon gar nicht in Folge neuer Handelsabkommen.
Frage: In den vergangenen Monaten waren Sie zweimal für die US-Bischofskonferenz in Israel und den Palästinensergebieten. Wie sehen Sie die Äußerungen von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, die Zweistaatenlösung aufgeben zu wollen?
Cantu: Sehr besorgt. Diese Lösung war Konsens nicht nur der Israelis und Palästinenser, sondern der ganzen Welt. Die Palästinenser haben uns gegenüber im September deutlich gemacht, dass sie entweder einen eigenen Staat oder gleiche Bürgerrechte in Israel wollen. Am wichtigsten ist aus meiner Sicht die Wahrung ihrer Menschenwürde. Sie haben für Jahrzehnte in der Luft gehangen, ohne Rechte auf Repräsentation, freie Reise und Arbeitswahl. Diese Hoffnungslosigkeit schafft einen fruchtbaren Boden für den Extremismus, den Israel fürchtet.
Frage: Ist Frieden in Nahost eine Frage der sozialen Gerechtigkeit?
Cantu: Israel hat das Recht und die Pflicht, sich zu verteidigen. Am besten lässt sich das erreichen, indem es seine Nachbarn, die Palästinenser, respektiert.
Frage: Haben Sie Hoffnung, dass aus der gegenwärtigen Situation noch etwas Gutes herauskommen kann?
Cantu: Als Christen haben wir immer Hoffnung. Selbst in Zeiten der Dunkelheit. Und dies sind düstere Zeiten.
Das Interview führte Thomas Spang (KNA).