
Der harte Blick nach vorn
Für viele Kinder geht jetzt wieder die Welt unter, wenn sie nach den Ferien zurück in die Schule müssen. Und dann gibt es Kinder, bei denen ist die Welt schon untergangen. Die würden gerne zur Schule gehen. Mitten im Wald in Swjatohirsk, 150 Kilometer nördlich von Donezk, in einem Urlaubscamp, das schon lange keins mehr ist. In den Ferien, die nie welche waren. Sondern Flucht.
Aktualisiert: 12.07.2015
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Für viele Kinder geht jetzt wieder die Welt unter, wenn sie nach den Ferien zurück in die Schule müssen. Und dann gibt es Kinder, bei denen ist die Welt schon untergangen. Die würden gerne zur Schule gehen. Mitten im Wald in Swjatohirsk, 150 Kilometer nördlich von Donezk, in einem Urlaubscamp, das schon lange keins mehr ist. In den Ferien, die nie welche waren. Sondern Flucht.
Rund 1,2 Millionen Menschen mussten seit Kriegsbeginn im Februar 2014 innerhalb der Ukraine fliehen, schätzen die Vereinten Nationen. Mehr als 670.000 haben außerdem Asyl oder eine Aufenthaltsgenehmigung in Russland oder Weißrussland beantragt. Mindestens 4.800 Tote soll es bislang gegeben haben. Zu Jahresende wurde eine Waffenruhe vereinbart, die immer wieder leise bröckelt und von der niemand weiß, wie lange sie noch anhält.
„Ich würde lieber sterben“
Als Anna Kasignevka, 68, vor acht Monaten mit dem Bus hier im Sammellager ankam, war alles, was sie hatte, das Sommerkleid, das sie trug. Und wäre ihr Sohn mit den Enkeln nicht hier, sagt Kasignevka: „Ich würde lieber sterben.“ Ihr Mann ist gestorben, kurz vor dem Krieg. Ihr Haus wurde zerbombt, ihr Knie ist kaputt und die Medizin zu teuer. Sie würde so gern spazieren gehen, es sollte doch weitergehen. Aber nichts geht.
150 Menschen haben jetzt hier ihr Zuhause auf unbestimmte Zeit. Es gibt keinen Strom, nur manchmal warmes Wasser, einen Sandkasten und eine verrostete Schaukel. Die Kinder können nicht zur Schule gehen, es ist einfach zu weit draußen. Anna Kasignevka war früher Grundschullehrerin, sagt sie, und hübsch. Wenn ihr siebenjähriger Enkel sie heute sieht, guckt er irritiert und sagt: „Du bist doch nicht meine Oma.“ Kasignevka weint. „Krieg macht hässlich.“
Mit diesem Krieg und seinem Ausmaß habe keiner gerechnet, sagt der Caritas-Präsident der Ukraine, Andrij Waskowycz. Der Staat könne keine adäquate Hilfe leisten, die Kassen sind leer. Deshalb müssten Hilfsorganisationen ihr Möglichstes versuchen, aber die Mittel sind begrenzt. Die Caritas Ukraine versorgt fünf Sammelunterkünfte und etliche Familien mit Essen, Hygieneartikeln und Kleidung. 50.000 Menschen helfen sie so landesweit, auch im umkämpften Osten. Besonders bedürftige Familien mit vielen Kindern bekommen „Cash-Cards“ mit umgerechnet etwa 22,50 Euro pro Monat und Person.
200 Euro sind das etwa für Lilya Komashko, ihren Mann, dessen Mutter und ihre sieben Kinder, die zusammen auf 60 Quadratmetern und drei Zimmern in der Stadt Kramatorsk leben. Nur in zwei Zimmern gibt es Licht. Und sonst: kleine Küche, zwei Betten und ein paar Matratzen auf dem Boden. Die Kinder fragen oft nach ihrem Spielzeug, nach Zuhause, „dann ist es wirklich hart, nicht zu weinen“, sagt Lilya Komashko. Ihr Zuhause ist in Makijiwka, der drittgrößten Stadt im umkämpften Gebiet Donezk, knapp 100 Kilometer von Kramatorsk entfernt.
Hier in der 160.000-Einwohner-Stadt gibt es offiziell 38.000 Flüchtlinge in Sammelunterkünften oder Wohnungen. Inoffiziell viel mehr. Die Mieten sind so sehr gestiegen, dass sich das kaum jemand leisten kann. Trotzdem wollen viele nicht weiter westwärts. Weil sie hier noch nah an der Heimat bleiben können. Weil sie hier eher anerkannt werden. Im Westen, da stelle man sie immer unter den Generalverdacht, prorussischen Separatisten nahezustehen.

Nach vorne schauen
Lilya Komashko sagt, sie habe viele Verwandte und Freunde in Russland, und die verstünden selbst nicht, warum das alles passiert. Politisch will sie keine der beiden Seiten einnehmen, oder sie zumindest nicht äußern. „Aber letztendlich sind Ukraine und Russland doch irgendwie verbrüdert, sie sollten nicht gegeneinander kämpfen.“
Was Erwachsene selbst nicht verstehen, können sie Kindern schlecht erklären. Statt über Krieg zu reden, versucht man, nach vorn zu schauen. Oder wenigstens nach rechts und links. In einer Schule in der Nachbarstadt Slawjansk gibt es für Kinder gratis Ballett- und Wrestling-Unterricht. Nachdem ein Querschläger das Dach abriss und die Fenster zersplitterte, hat die Caritas Ukraine das Gebäude saniert. Maksym Oleksandrovych, ehemaliger Wrestling-Champion aus Donezk, trainiert die Kinder nach der Schule und sagt: „Wir reden hier nicht über Krieg, aber Wrestling hilft bei der Bewältigung.“
Lilya Komashkos Söhne gehen in Kramatorsk zum Boxtraining. Zuhause hätten sie das niemals gedurft; aber da hatten sie ja auch alles. Nichts davon konnten sie mitnehmen, bis auf die Violine und das Cello. Und den Traum der großen Schwester, Musikerin zu werden. Und wenn Natalia, 15, so dasteht in ihrem Kleid, den langen schwarzen Haaren, ihrer Anmut, und die Violine spielt; wenn ihre Geschwister um sie herumtanzen und lachen, dann muss man vielleicht sagen: Krieg mag hässlich machen, aber nicht immer hoffnungslos.
Von Julia Rathke (KNA)