
Rufe nach Kehrtwende in EU-Flüchtlingspolitik
Nach dem Schiffsunglück vor Libyen mit Hunderten Toten mehren sich die Rufe nach einem grundlegenden Kurswechsel in der EU-Flüchtlingspolitik. Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), sprach sich im „Kölner Stadt-Anzeiger“ (Montag) für eine „geordnete Einwanderungspolitik“ aus. „Wir können nicht an dem Symptom weiter herumdoktern“, sagte Schulz, der zugleich scharfe Kritik an den Mitgliedsstaaten äußerte: „Nichts bewegt sich. Und das liegt nicht an der EU, sondern am Unwillen der Hauptstädte der EU-Mitgliedsstaaten. Nicht aller, aber einiger.“
Aktualisiert: 12.07.2015
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Nach dem Schiffsunglück vor Libyen mit Hunderten Toten mehren sich die Rufe nach einem grundlegenden Kurswechsel in der EU-Flüchtlingspolitik. Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), sprach sich im „Kölner Stadt-Anzeiger“ (Montag) für eine „geordnete Einwanderungspolitik“ aus. „Wir können nicht an dem Symptom weiter herumdoktern“, sagte Schulz, der zugleich scharfe Kritik an den Mitgliedsstaaten äußerte: „Nichts bewegt sich. Und das liegt nicht an der EU, sondern am Unwillen der Hauptstädte der EU-Mitgliedsstaaten. Nicht aller, aber einiger.“
Als konkrete Maßnahmen nannte Schulz Regelungen mit der Regierung der Nationalen Einheit in Libyen, um „die Menschen davon abzuhalten, sich in ein unkalkulierbares Risiko zu stürzen“. Nötig sei zudem ein effektiver Küstenschutz, um die organisierten Schleppernetzwerke zu bekämpfen, und mehr Hilfen für die Krisenstaaten Afrikas, um den dort lebenden Menschen Perspektiven in ihrer Heimat aufzuzeigen und sie von einer Flucht abzuhalten.
Rufe nach einer Neuauflage von „Mare Nostrum“
Die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, forderte eine Neuauflage des Seenotrettungsprogramms „Mare Nostrum“, das im vergangenen Jahr ausgelaufen war. Sie kündigte zudem an, in der Asylpolitik den Druck auf Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) zu erhöhen. De Maiziere hatte am Sonntag die EU-Kommission in die Pflicht genommen. Er setze bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms auf eine europäische Antwort, so der Minister. Ein Schwerpunkt müsse dabei auf dem Kampf gegen Schlepperbanden liegen.
Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer (SPD) sprach sich ähnlich wie Göring-Eckardt für eine Ausweitung der Seenotrettung nach dem Vorbild von „Mare Nostrum“ aus. Daneben gelte es, vor Ort in Afrika zu versuchen, den Flüchtlingsstrom zu steuern. Dazu seien Anlaufstellen in den EU-Vertretungen stabiler afrikanischer Staaten aber sinnvoller als in eher unsicheren Ländern wie Libyen, deren Infrastruktur zusammenzubrechen drohe.

Papst Franziskus rief zum Gebet auf
Die Nachrichten über das Unglück sorgten europaweit für Betroffenheit. Papst Franziskus betete am Sonntag gemeinsam mit Zehntausenden auf dem Petersplatz für die Opfer. Die Ertrunkenen nannte er „unsere Brüder“, die auf der Suche nach einem besseren Leben und Glück gewesen seien. Zugleich rief der Papst die internationale Staatengemeinschaft zum Handeln auf. In den kommenden Tagen soll möglicherweise ein EU-Sondergipfel zu dem Thema stattfinden. Schon bevor die Operation „Mare Nostrum“ eingestellt wurde, hatte der Vatikan im Oktober vor den Folgen eines Einsatzstopps gewarnt .
Auch die katholische und evangelische Kirche in Deutschland forderten am Montag eine sofortige Seenotrettungsmission in europäischer Verantwortung. „An dieses vielfache Sterben vor den Küsten unseres Kontinents dürfen wir uns nicht gewöhnen. Das ist ein humanitärer Skandal“, betonten der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, in einer gemeinsamen Erklärung.
„Mare Nostrum“ habe Vorbildliches geleistet. Hauptzweck der Nachfolge-Mission Triton sei dagegen nicht die Rettung Schiffbrüchiger, sondern der Grenzschutz. „Deshalb fordern wir mit Nachdruck, zu einem durchgreifenden Konzept der Seenotrettung zurückzukehren“, so Marx und Bedford-Strohm.
Auch der Vorsitzende der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Ludwig Schick, forderte über den Kurznachrichtendienst Twitter, einen Ausbau der Seenotrettung, eine klare Einwanderungspolitik und mehr Entwicklungshilfe. Konkret formulierte der Erzbischof der Diözese Bamberg gegenüber der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) fünf Forderungen an die Politik .
Der Vorsitzende der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Norbert Trelle, zeigte sich erschüttert über das jüngste Flüchtlingsdrama vor der Küste Libyens. „Mit Trauer und Zorn nehme ich wahr, dass das Mittelmeer zum größten Massengrab Europas geworden ist“, erklärte Trelle am Montag in Hildesheim. Die entsetzlich große Anzahl von Todesopfern sei eine Mahnung, auf europäischer Ebene gemeinsam Verantwortung für das Schicksal der Flüchtlinge zu übernehmen. Der Hildesheimer Bischof sprach den Angehörigen der Opfer sein Mitgefühl aus.
BDKJ: Offene Grenzen und offene Arme für Geflüchtete
Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) appellierte an die Politik, Migranten einen sicheren Zugang zum Asylsystem in der Europäischen Union zu gewährleisten und die Fluchtwege nach Europa zu öffnen. Das Grundrecht auf Asyl sei durch die EU-Grenzsicherungspolitik eingeschränkt. „Wir müssen selbstkritisch hinterfragen, ob wir als ‚fortschrittliches‘ Europa das Recht auf Asyl derzeit wirklich gewähren. Grenzzäune rund um die ‚Festung Europa‘ zwingen Menschen erst in Lebensgefahr und Illegalität, bevor wir ihnen letztlich die Chance auf ein Asylverfahren gewähren“, sagte die BDKJ-Bundesvorsitzende Lisi Maier am Sonntag in Rothenfels.
Die Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge Pro Asyl startete eine Mailaktion, in der die Teilnehmer Europaparlamentspräsidenten Schulz dazu auffordern können, Gelder für eine zivile europäische Seenotrettung bereitzustellen.
Nach den Worten des Volkswirtschaftlers Michael Bohnet wird der Umgang mit Flüchtlingen ungeachtet der aktuellen Katastrophe eines der zentralen Themen der Entwicklungspolitik bleiben. Aktuell gebe es 40 Länder, die zur Gruppe der fragilen und von bewaffneten Konflikten betroffenen Staaten zählen, sagte Bohnet der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Dort lebten derzeit 1,5 Milliarden Menschen. Im Jahr 2075 werde in diesen Ländern aller Voraussicht nach die Masse der Armen wohnen. Und es bestehe die Gefahr, dass weitere Staaten hinzukämen. „Hier muss die Weltgemeinschaft dringend neue Konzepte entwickeln“, so Bohnet, der als entwicklungspolitischer Chefunterhändler des Entwicklungsministeriums die meisten großen UN-Konferenzen der 90er-Jahre begleitete. (lek mit KNA)