
„Es ist ein unfaires System“
Tee aus der indischen Region Darjeeling gehört zu den besten der Welt. Die Spitzenblätter der Ernten werden für über 50 Euro pro Kilogramm verkauft. Die Pflücker auf den Plantagen bekommen umgerechnet etwa 1,50 Euro pro Tag. Im Interview spricht die indische Gewerkschaftlerin und Aktivistin Anuradha Talwar über die Arbeitsbedingungen auf den Plantagen und ihre Forderungen an Politik und Unternehmen.
Aktualisiert: 31.05.2022
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Tee aus der indischen Region Darjeeling gehört zu den besten der Welt. Die Spitzenblätter der Ernten werden für über 50 Euro pro Kilogramm verkauft. Die Pflücker auf den Plantagen bekommen umgerechnet etwa 1,50 Euro pro Tag. Im Interview spricht die indische Gewerkschaftlerin und Aktivistin Anuradha Talwar über die Arbeitsbedingungen auf den Plantagen und ihre Forderungen an Politik und Unternehmen.
Frage: Frau Talwar, unter welchen Bedingungen arbeiten die Pflücker auf den Plantagen in Westbengalen?
Talwar: Die Arbeitsbedingungen sind sehr schlecht. Es ist ein unfaires System. Ein Pflücker muss am Tag 25 bis 30 Körbe Blätter liefern, um einen Tageslohn von umgerechnet rund 1,50 Euro zu bekommen. Daraus entstehen bis zu sieben Körbe fertiger Tee, der auf dem Markt rund 495 Euro einbringt. Die Pflücker bekommen also nur einen Bruchteil des Endbetrags. Zusätzlich zu der harten Arbeit sind das Gesundheits- und Bildungssystem in einem schlechten Zustand. Außerdem leben die Menschen direkt auf den Plantagen in Häusern der Verwaltung. Die Arbeitgeber können die Pflücker vertreiben, wann immer sie wollen.
Frage: Sie machen besonders auf die Situation der Frauen auf den Plantagen aufmerksam. Warum geht es den Pflückerinnen noch schlechter als den männlichen Kollegen?
Talwar: Frauen bilden auf den Plantagen 60 bis 70 Prozent der Arbeitskraft. Weil die Arbeit somit als Frauenarbeit gilt, wird sie auch schlechter bezahlt. Das ist eine Abwärtsspirale. Viele Männer haben die Plantagen in den letzten Jahren verlassen und Frauen mussten so auch harte Arbeiten in den Fabriken oder die Nachtschichten übernehmen. Und sie arbeiten immer nur als Pflückerinnen. In hohen Positionen oder in den Unternehmen sind sie kaum zu finden. Auch die auftretenden Fälle von Menschenhandel betreffen hauptsächlich Frauen und Kinder. Wenn die Pflückerinnen über sexuelle Belästigung klagen, interessiert das in den Gärten niemanden.

Frage: Es kommt auch immer wieder zu Schließungen von Plantagen. Was passiert dann mit den Arbeitern, die sogar auf den Plantagen wohnen?
Talwar: Die Menschen dort kämpfen ums Überleben. Sie arbeiten oft in Steinbrüchen auf dem Gelände. Bei der Arbeit ruinieren sie sich die feinen Hände, die sie zum Teepflücken benötigen. Außerdem kommt es oft zu schweren Verletzungen wie Knochenbrüchen. Doch die medizinische Versorgung ist schlecht. Die Leute dort existieren von weniger als 1.200 Kalorien pro Tag. Das ist schockierend. In einen geschlossenen Teegarten zu gehen ist eine deprimierende Erfahrung. Die Menschen dort sind hoffnungslos.
Frage: Gibt es für die Menschen Hilfe vom indischen Staat?
Talwar: Die Regierung hat Gesetze verabschiedet, die die existenzielle und medizinische Versorgung der Menschen in den stillgelegten Teegärten sichern soll. Seitdem haben sich die Todesfälle und der Hunger dort auch verringert. Doch einige große Unternehmen melden diese Gärten nicht als geschlossen. Die Regierung ist nicht offensiv genug und will sich nicht mit den Unternehmen anlegen.
Frage: Die G7-Staaten haben sich auf dem vergangenen Gipfel das Ziel gesetzt, die Arbeitsbedingungen in den internationalen Lieferketten zu verbessern. Was fordern Sie von Politik und Wirtschaft?
Talwar: Deutschland ist einer der größten Importeure für qualitativ hochwertigen Tee aus Indien. Daher stehen besonders deutsche Unternehmen in der Verantwortung, Druck auszuüben. Sie müssen die ganze Lieferkette überwachen und faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen auch am Ende der Kette sicherstellen. Sie dürfen die Verantwortung nicht auf die Länder abschieben, in denen die Arbeiter leben. Schließlich machen sie mit dem Handel ein sehr gutes Geschäft, während andere hungern. Außerdem muss es mehr Transparenz in den Lieferketten geben. Aus meiner Sicht sind die Versprechen der G7-Staaten nicht effektiv, weil sie nicht bindend sind.
Frage: Wäre ein Abkommen nach dem Vorbild des Textilbündnisses von Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) ein Lösungsansatz?
Talwar: Auch das ist ein freiwilliger Ansatz. Ein Geschäftsmann, der Profit machen will, weiß genau, was er tut. Anzunehmen, dass diese Person sich an freiwillige Abmachungen hält, ist naiv. So lange die Menschen sich noch an den Schock von Rana Plaza erinnern können, wird ein solches Bündnis funktionieren. Aber wenn die Leute ihn vergessen haben, kehren sie zur Normalität zurück. Wir brauchen einen Standard, der bindend für Unternehmen in der ganzen Welt ist.
Frage: Was halten sie von den zahlreichen Tee-Projekten von Organisationen wie Oxfam, die sich auch für Transparenz in den Lieferketten einsetzen?
Talwar: Diese Kampagnen sind gut. Sie machen auf die Probleme aufmerksam, bringen zum Nachdenken. Es reicht nicht, Geld zu spenden, weil es Menschen anderswo schlecht geht. Die Leute müssen lernen, nicht nur Konsumenten zu sein und anfangen, Fragen an die Politik und vor allem die Unternehmen zu stellen. Schaut ganz runter an der globalen Lieferkette !
Das Interview führte Maike Müller (KNA)