
„Es geht viel über Hände und Füße“
Weltalphabetisierungstag ‐ Rund 230.000 Flüchtlinge sollen laut Schätzungen bis zum Jahresende in Nordrhein-Westfalen Aufnahme finden. Neben ihrer Unterbringung ist auch die schulische Bildung eine Herausforderung, wie Regina Merkl weiß. Sie ist Leiterin der Sternsingergrundschule in Köln-Longerich, in der seit einem Jahr Flüchtlingskinder unterrichtet werden.
Aktualisiert: 07.09.2015
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Regina Merkl ist Leiterin der katholischen Sternsingergrundschule in Köln Longerich, in der seit einem Jahr Flüchtlingskinder unterrichtet werden. Zum Weltalphabetisierungstag am heutigen Dienstag spricht Merkl über die neuen Herausforderungen für Schüler und Lehrer - denn auch hier in Deutschland ist die Alphabetisierung für Mädchen und Jungen von enormer Bedeutung.
Frage: Neben den 210 Grundschülern, die auf die katholische Sternsingerschule in Köln Longerich gehen, erhalten jetzt auch Mädchen und Jungen hier Unterricht, die nicht aus Deutschland stammen, richtig?
Merkl: Genau, wir haben seit dem letzten Jahr Flüchtlingskinder an unserer Schule. Vorwiegend aus Syrien, aus Serbien, ein Kind aus dem Kongo und auch aus dem Kosovo.
Frage: Wie gelingt es, die Flüchtlingskinder in den Unterricht zu integrieren. Wie verhalten sich die Kinder, wenn sie das erste Mal in den Unterricht kommen?
Merkl: Zunächst kommen sie erstmal sehr unsicher an – ängstlich. Man erkennt die Kulturunterschiede daran, wie sich die Kinder auf dem Schulhof bewegen, ob es ein spontanes Spielen ist, ein lautes, ein fröhliches. So etwas kannten viele Kinder bisher nicht, je nachdem aus welchem Staat sie kamen. Für viele ist es auch schwierig, innerhalb der Klassen sitzen zu bleiben, nicht einfach rauszulaufen. Wir hatten gestern so eine Geschichte im ersten Schuljahr: Es regnete und ein kleiner Junge, ein Flüchtlingskind aus Syrien, signalisierte mir, er bleibt nicht mehr hier, es regne ja und er gehe jetzt nach Hause. Mit Mühe und Not haben wir ihn hier behalten. Aber ansonsten versuchen die Kinder ganz schnell, mit den anderen Kindern Kontakt zu knüpfen. Bei den Jungs geht es ganz leicht über den Ball, bei den Mädchen über das Fangen spielen oder durch Seilspringen – über solche Aktionen gelingt es, dass sie zueinanderfinden, die Kinder haben da keine Berührungsängste.
Frage: Wie funktioniert der Unterricht, wenn nicht einmal alle Kinder Deutsch sprechen?

Merkl: In der Vorbereitungsklasse ist es etwas einfacher als in der normalen Klasse, weil da ja nur Kinder sind, die Deutschprobleme haben oder noch kein Deutsch können, da läuft ganz viel über Bilder. Ein Beispiel: Wir haben eine große Holztafel. Dort sind die Zeiten, die Monate, die Tage, das Datum abgebildet, und das alles wird jeden Tag im Kreis in einem Sprechrhythmus einstudiert. Also: Heute haben wir Montag, den soundsovielten, den Monat, es ist Frühling, die Sonne scheint – alles wird verbal mit den Kindern erarbeitet. Genauso läuft es mit den Farben ab. Alles, was die Kinder dort sehen, muss verbalisiert werden, und es wird immer gezeigt und dann gesagt: Das ist die Tür, das ist das Fenster.
Frage: Gibt es Beispiele aus dem Unterricht, die verdeutlichen, wie anders das Leben für die Flüchtlingskinder hier ist?
Merkl: Ja, wir haben ein syrisches Kind, das kam mit seinem Schulranzen in die Schule, setzte sich an den Tisch und machte auch einen aufgeweckten, sehr fröhlichen Eindruck. Wir haben eine sehr alte Pausenklingel, und es läutete zur Pause. Wir wollten die Kinder bitten, nach draußen zu gehen, aber Mohamed war weg. Er saß unter dem Tisch, hielt seinen Ranzen ganz fest und machte sich ganz klein. Für ihn war das wahrscheinlich so eine Art Sirenenton, der bedeutet, dass er sich in Sicherheit bringen muss. Und da mussten wir bei ihm erstmal das Vertrauen aufbauen, dass das eben nichts Schlimmes ist, und wenn es bei uns klingelt, heißt dass, es geht in die Pause, auf die sich die Kinder eigentlich freuen.
Frage: Ideal wären ja zusätzliche Lehrkräfte, die zum Beispiel Arabisch sprechen könnten. Wie sieht denn die Realität in der Grundschule aus?
Merkl: Die Realität sieht ganz anders aus. Arabisch spricht hier keiner an der katholischen Grundschule, es geht also viel über Hände und Füße. Was wirklich ein bisschen ein Problem darstellt, sind die Kinder, die nicht alphabetisiert sind, die vorher nie in einem Kindergarten waren, die gar nicht wissen, was es heißt, in einer Gruppe am Vormittag zusammen zu lernen, eine gewisse Zeit an einem Tisch sitzen zu bleiben, einen Stift in die Hand zu nehmen, eine Schere in die Hand zu nehmen. Die Kinder kennen teilweise auch keine Farben, sie können sie nicht benennen, und das ist kein sprachliches Problem, sondern sie wissen es einfach nicht. Wir würden uns wünschen, dass wir noch mehr Unterstützung bekommen. Ich bin jetzt gerade dabei, in Verbindung mit unserem Träger im offenen Ganztag, zu besprechen, dass wir eine Erzieherin stundenweise einstellen können, die mit den Kindern diese grundlegenden, elementaren Fähigkeiten einübt.
Frage: Was werden die schulischen Herausforderungen in den nächsten Jahren sein?
Merkl: Ich glaube, dass uns all das in den nächsten Jahren noch viel mehr fordern wird. Dass wir uns noch mal ganz anders vorbereiten und auch einlassen müssen und wollen. Auf die Kulturen, die damit verbunden sind, auf das gemeinsame Lernen, vielleicht müssen wir auch andere Strukturen für unseren Unterricht entwickeln, und dass wir noch viel mehr Kollegen benötigen, die Deutsch als Zweitsprache unterrichten können, denn das ist noch mal etwas ganz anderes. Ich glaube, dass wir auch räumlich ausweichen müssen auf kirchliche Einrichtungen, auf Pfarrheime, auf andere offene Einrichtungen, die wir dann nutzen können, um die Kinder entsprechend vorzubereiten auf die Schule, aber auch um sie nachmittags zu unterstützen in der Hausaufgabenbetreuung und im Freizeitangebot.
Frage: Vor diesem Hintergrund, was spielt Religion hier in der Schule für eine Rolle? Wird mit den Kindern gebetet?
Merkl: Ja, wir sind eine katholische Grundschule. Ich möchte auch, dass in jeder Klasse ein Kreuz hängt, das ist mir ganz wichtig. Die Kinder gehen alle mit in den Schulgottesdienst, und die Eltern sind alle informiert. Für einige syrische Eltern war das erst ein Problem, aber mit dem Ankommen hier ist die Akzeptanz gewachsen. Das morgendliche Beten wird in vielen Klassen durchgeführt, aber nicht in allen. Das Katholischsein ist bei uns ein Teil, aber was wir bei uns in der Schule für ganz wichtig halten, ist die goldene Regel: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Und das wird bei uns eigentlich viel mehr gelebt als das tägliche Gebet.
Frage: Ihre Wünsche für die Zukunft ...
Merkl: Ich wünsche mir, dass es noch mehr Lehrer gibt, die auch Deutsch als Zweitsprache unterrichten können, Ehrenamtliche, die kontinuierlich zur Verfügung stehen, mehr Raum für die Kinder, mehr Platz. Damit verbunden auch noch Therapeuten, die uns hier beistehen und natürlich die finanzielle Unterstützung, die wir brauchen, um die Kinder so auffangen zu können und betreuen zu können, wie sie es eigentlich nötig haben.
© Kindermissionswerk „Die Sternsinger“