„Diese Zustände sind unhaltbar“
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„Diese Zustände sind unhaltbar“

Migration ‐ 232 Millionen Menschen leben weltweit nicht in ihrem Heimatland. Häufig verlassen sie Heim und Familie in der Hoffnung, in einem anderen Land Arbeit und soziale Sicherheit zu finden. Nicht selten werden diese Hoffnungen enttäuscht, wie Hildegard Hagemann von der Deutschen Kommission Justitia et Pax weiß. Ein Interview zum Internationalen Tag der Migranten.

Erstellt: 18.12.2015
Aktualisiert: 16.12.2015
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232 Millionen Menschen leben laut Angaben der Vereinten Nationen nicht in ihrem Heimatland. Das sind mehr als je zuvor. Häufig verlassen sie Heim und Familie in der Hoffnung, in einem anderen Land Arbeit und soziale Sicherheit zu finden. Nicht selten werden diese Hoffnungen enttäuscht, wie Hildegard Hagemann von der Deutschen Kommission Justitia et Pax weiß. Die Entwicklungsexpertin setzt sich seit Jahren für eine Konvention der Vereinten Nationen ein, die die Rechte von Wanderarbeitern und deren Familien stärkt.

Frage: Die UN-Wanderarbeiterkonvention wurde am 18. Dezember vor 25 Jahren von den Vereinten Nationen verabschiedet. Was hat sich seitdem getan?

Hagemann: Es hat sich leider noch nicht so viel getan wie erhofft. Bisher haben nur 48 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen die Konvention ratifiziert. Das ist zu wenig, um den Schutz von Wanderarbeitern und ihren Familien weltweit tatsächlich zu garantieren – zumal wir in einer Zeit leben, in der die Migrationsbewegungen weltweit stark zunehmen.

Frage: Für alle Menschen gelten doch ohnehin die Menschenrechte. Warum müssen  Wanderarbeiter und deren Familien darüber hinaus besonders geschützt werden?

Hagemann: Die Situation von Migranten ist von vornherein eine schwächere als diejenige von Einheimischen. Menschen, die in ein fremdes Land einwandern, haben in den wenigsten Fällen umfassende Kenntnisse über die Rechte, Gesetze und kulturellen Gepflogenheiten ihrer neuen Heimat. Auch von sprachlichen Hürden ist auszugehen. Wenn es zu  Arbeitsrechtsverletzungen kommt, sind nicht registrierte Einwanderer besonders verwundbar, da sie eher abgeschoben werden, bevor sie überhaupt eine Chance haben, ihre Rechte einzuklagen.

Frage: In welchen Bereichen kommt es besonders häufig zu Arbeitsrechtsverletzungen?

Hagemann: Angestellte in privaten Haushalten arbeiten beispielsweise sehr oft in prekären Situationen: Pässe werden einbehalten, Löhne nicht gezahlt, Überstunden werden nicht kompensiert. Häufig wird den Arbeiterinnen nicht einmal ein freier Tag in der Woche gewährt. Ein Großteil der Angestellten sind Migranten, was die Situation noch prekärer macht. Glücklicherweise gibt es eine Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die speziell die Rechte von Hausangestellten schützt. Seit 2013 gilt diese auch in Deutschland.

Frage: Im Gegensatz zur ILO-Konvention für Hausangestellte hat Deutschland die Wanderarbeiterkonvention bisher nicht ratifiziert. Woran liegt das?

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Hagemann: Es ist auffällig, dass vor allem entsendende Länder wie Mexiko oder die Philippinen die Konvention ratifiziert haben. Bei den Hauptaufnahmeländern von Migranten, zu denen auch Deutschland zählt, besteht das Problem, dass Migration eher durch eine sicherheitspolitische Brille betrachtet wird.

Frage: Welche Vorbehalte bestehen gegenüber der Konvention?

Hagemann: Soziale Unruhen, steigende Kriminalität, eine höhere Terror-Gefahr werden befürchtet. Das sind Vorbehalte, die sich leider angesichts steigender Flüchtlingszahlen verstärken. Die Fremdenfeindlichkeit, mit der wir uns aktuell in Deutschland auseinandersetzen müssen, rührt auch daher, dass weder Europa noch die Bundesrepublik jemals eine progressive Migrationspolitik angestrebt haben. So zielte etwa das Gastarbeiterkonzept der 1960er Jahre darauf ab, die Arbeitskraft von Migranten kurzfristig auszunutzen und der deutschen Wirtschaft unter die Arme zu greifen. Ein dauerhaftes Bleiben der Einwanderer war nicht gewünscht.

Frage: Mit welchen Folgen?

Hagemann: Wir haben selten zwischen legaler Einwanderung und der Notwendigkeit, Flüchtlingen aus humanitären Gründen Schutz zu gewähren, unterschieden. Diese beiden Stränge von Migration vermischen sich jetzt – auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Eine Konvention wie diejenige für Wanderarbeiter könnte dazu beitragen, neben dem Asyl auch legale Einwanderungsmöglichkeiten zu stärken. Wir dürfen die Bereitschaft der Menschen, Migranten aus humanitären Gründen aufzunehmen, nicht überstrapazieren. Wenn die Bundesregierung Einwanderern mehr legale Wege nach Deutschland aufzeigen würde, würden auch die Vorurteile gegenüber Asylbewerbern als sogenannte „Sozialschmarotzer“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ zurückgehen.

Frage: Sehen Sie eine Chance, dass Deutschland die Wanderarbeiterkonvention in absehbarer Zeit ratifiziert?

Hagemann: In Deutschland sind sehr viele internationale Abkommen für lange Jahre nicht bearbeitet worden. Das hat damit zu tun, dass die Ratifizierung von Konventionen auch einen bestimmten Berichterstattungsrhythmus und Verpflichtungen gegenüber der internationalen Gemeinschaft mit sich bringt. Deutschland hat stets auf sein ausgeprägtes Rechtesystem verwiesen, das die Grundrechte von Arbeitenden bereits ausreichend schützt. Das wird sich sicherlich ändern, sobald sich die aktuell angespannte Flüchtlingssituation wieder ein bisschen beruhigt hat. Wenn wir Flüchtlinge aufgenommen haben und auf einem guten Weg der Integration sind, wird die Bundesregierung verstärkt an einem soliden gesetzlichen Rahmen für Migration arbeiten. In diesem Zusammenhang könnte die UN-Wanderarbeiterkonvention auch wieder in die Diskussion kommen.

Frage: Das alles wird auf abstrakter politischer Ebene diskutiert. Wie kann jeder Einzelne denn sein Bewusstsein für die Situation von Wanderarbeitern hier in Deutschland schärfen?

Hagemann: Man sollte sensibel sein für das, was in der Umgebung passiert. Ich denke da beispielsweise an Wanderarbeiter, die nur saisonal in Deutschland arbeiten und in dieser Zeit in Unterkünften wohnen, die platz- oder hygienemäßig unter jeglichen Standards liegen. Diese Zustände sind unhaltbar. Hier liegt es in der Verantwortung jedes Einzelnen, auf den Arbeitgeber oder die örtlichen Behörden zuzugehen und auf das Problem hinzuweisen. Wir haben hier gute Vorbilder in der Kirche, die solche Defizite in ihren Gemeinden ansprechen, zum Beispiel Prälat Peter Kossen aus Vechta. Er setzt sich sehr stark für die Rechte von Wanderarbeitern in der fleischverarbeitenden Industrie ein. In diesen Zusammenhang ist er leider auch häufig unter Druck geraten. Ihm wird vorgeworfen, schmutzige Wäsche zu waschen. Dabei tritt er zusammen mit Gewerkschaften dafür ein, dass Saisonarbeiter einen fairen Lohn bekommen, vernünftige Wohnverhältnisse vorfinden und keine Arbeitsrechtsverletzungen an ihnen begangen werden. Das ist ihr gutes Recht.

Das Interview führte Lena Kretschmann.

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