Im Land der schwarzen Säcke
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Im Land der schwarzen Säcke

Japan ‐ „Fukushima“ ist Japanisch; es bedeutet „Insel des Glücks“. Doch viele Bewohner der Präfektur Fukushima in Japans Nordosten haben ihr Glück verloren, damals an jenem 11. März 2011, als Fukushima traurigen Weltruhm erlangte. Fünf Jahre danach die Frage: Welche Konsequenzen hat Japan aus der Atomkatastrophe gezogen?

Erstellt: 11.03.2016
Aktualisiert: 11.03.2016
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Scheinbar jeder in Japan freut sich dieser Tage, wenn er vom deutschen Atomausstieg hört. Auch Masahide Matsumoto. Der 79-Jährige ist seit 28 Jahren Bürgermeister von Katsuaro. Und er wollte wohl nicht aufhören, Bürgermeister zu sein, bevor er nicht sein Dorf wieder an seine alte Stelle zurückgebracht hat. Sein Dorf lag in der 20-Kilometer-Sperrzone um den havarierten Atomreaktor „Fukushima I“. Sein Dorf liegt derzeit außerhalb der 20-Kilometer-Zone. Denn Katsuaro war die einzige Ortschaft, die nach der Atomkatastrophe von Fukushima weitgehend zusammenblieb.

Bereits am 13. März 2011, zwei Tage nach der Katastrophe, entschieden sich die Menschen von Katsuaro, gemeinsam fortzuziehen. Rund 650 von zuvor 1.567 Einwohnern gingen mit, zogen zunächst in die Präfekturstadt Fukushima, tags darauf weiter westlich nach Aizu, schließlich, im Juni 2011, wieder nach Osten, auf rund 34 Kilometer an das alte Dorf heran. Seit knapp fünf Jahren warten die Bürger von Katsuaro nun in ihren Behelfscontainern auf die Wiederfreigabe der Fläche. Zumindest die Älteren.

Denn mit dem Ende der Provisorien endet wohl auch die gemeinsame Geschichte: 47 Prozent wollen zurück, davon die Hälfte sofort, die anderen irgendwann. 53 Prozent aber gehen nicht mehr mit. Sie haben sich neu arrangiert, vor allem die Jungen. Sie haben einen neuen Job, ein neues Haus gebaut oder die Kinder in der Schule. Und vor allem: Sie wollen ihre Kinder nicht der Strahlung von Katsuaro aussetzen.

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Die Stadtverwaltung darf zurück, die Bürger nicht

Denn der Evakuierungsbescheid für das Dorf gilt weiterhin; die Werte sind noch viel zu hoch. Doch es gibt eine Ausnahme: Die Stadtverwaltung darf zurück – die Bürger noch nicht. Diese Karte will Bürgermeister Matsumoto jetzt im August ziehen und mit gutem Beispiel vorangehen. Die Strahlung mache ihm nur „ein bisschen“ Sorge – sagt er.

Viele der einstigen Bauern von Katsuaro haben inzwischen auch schon eine neue Einkunftsquelle. Die Hälfte der früheren Agrarflächen des Dorfes hat Tepco gepachtet, die Betreiberfirma von „Fukushima I“. Hier werden die gefürchteten schwarzen Säcke gelagert, die in immer mehr Dörfern in und um die 20-Kilometer-Zone zu Abertausenden gestapelt werden. Sie enthalten jene Erde, die den Bewohnern immer so wichtig gewesen ist. Seit Jahren wird die verseuchte Krume aufgenommen und verpackt. Einen sicheren Ort für so viel radioaktives Material kann es nicht geben. So ist die verbotene Zone zum Land der schwarzen Säcke geworden. Die Folgearbeiten könnten Schätzungen zufolge noch 30 bis 40 Jahre andauern.

Obwohl noch immer 29 Dorfbewohner von Katsuaro für Tepco arbeiten: „Die Haltung zur Atomkraft hat sich um 180 Grad gedreht“, sagt Bürgermeister Matsumoto. Unterdessen versucht die Regierung immer noch, so viel Unmut und Kritik wie möglich unter der Decke zu halten. Schließlich ist vor einigen Tagen das vierte von einst 58 AKWs wieder ans Netz gegangen; die chinesische Importkohle kommt Japans Wirtschaft teuer zu stehen.

Tokios Erzbischof: „Wir haben alle eine Mitverantwortung“

Die atomfreundliche Regierung von Ministerpräsident Shinzo Abe fühlte sich 2013 sogar bemüßigt, ein „Gesetz zum Schutz besonders gekennzeichneter Staatsgeheimnisse“ zu erlassen. Kritiker sehen darin den Versuch, Berichterstatter über den Fukushima-Skandal einzuschüchtern: über die erhöhte Suizidrate und über Folgekrankheiten; über Einsamkeit und eine Multiplikation psychischer Störungen unter den Evakuierten. Vor allem aber: über die Pannen bei Tepco und den zuständigen Ministerien in jenem verhängnisvollen März vor fünf Jahren.

Besonnene Zeitgenossen versuchen unterdessen, den Blick auf die Verantwortlichkeiten zu weiten. So begrüßt zwar Tokios katholischer Erzbischof Peter Okada den kürzlich angekündigten Prozess gegen drei Verantwortliche der Fukushima-Betreiberfirma Tepco. Allerdings trügen nicht sie allein die Schuld an der Katastrophe. „Hier im Ballungsraum Tokio beziehen wir alle unseren Strom von Tepco. Wir leben in ziemlichem Komfort.“ Jeder einzelne, der diese Energie verbrauche, trage Mitverantwortung. „Unser bequemes Leben“, so Okada, „ist auch durch das Opfer der Menschen von Fukushima gekauft worden“.

Von Alexander Brüggemann (KNA)

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Caritas international fordert mehr Hilfen für Fukushima

Die katholische Hilfsorganisation Caritas international fordert Japan zu umfassenderen Hilfen für die Menschen in der Region Fukushima auf. „Die Regierung muss sich viel stärker auf die Schicksale der Betroffenen der Nuklearkatastrophe konzentrieren, ihnen neue Lebensperspektiven in einer anderen Umgebung bieten und sie sozial auffangen“, sagte der Leiter von Caritas international, Oliver Müller, am Dienstag in Freiburg. Genau fünf Jahre nach der durch Erdbeben und Tsunami ausgelösten Katastrophe im Kernkraftwerk „Fukushima I“ müssten noch immer Zehntausende damals evakuierte Japaner in Containersiedlungen oder Notunterkünften leben. Da viele Städte und Dörfer massiv verstrahlt seien, könnten viele Menschen auch auf lange Sicht nicht in ihre alte Heimat zurück und müssten Hilfen zu einem Neuanfang bekommen, fordert die Hilfsorganisation. In Zusammenarbeit mit lokalen Partnern hat Caritas international seit der Katastrophe Nothilfen, Wiederaufbauprojekte sowie Angebote zur Trauma-Bekämpfung mit rund sieben Millionen Euro organisiert. Auch werden Sommerfreizeiten für Kinder aus der Region finanziert. Die Hilfsprojekte sollen auch in den kommenden Jahren fortgesetzt werden. (KNA)