Menschenrechtlerin Setalvad sieht eine bedrohliche Entwicklung in Indien
Menschenrechte ‐ Im August 2017 feierte Indien den 70. Jahrestag seiner Staatsgründung. Seit 2014 regiert Premierminister Narendra Modi das Land. Er gilt als hindu-nationalistischer Hardliner. Die indische Menschenrechtlerin Teesta Setalvad warnt vor einer bedrohlichen Entwicklung. Diese betrifft auch religiöse Minderheiten im Land.
Aktualisiert: 04.01.2023
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Teesta Setalvad (54) ist eine der bekanntesten indischen Bürgerrechtlerinnen und Journalistinnen. Die nicht praktizierende Hinduistin ist mit dem Muslim und Bürgerrechtler Javed Anand verheiratet. Beide sind Mitbegründer der Nichtregierungsorganisation „Citizens for Justice and Peace“ (CJP).
Frage: Frau Setalvad, im August 2017 feiert Indien den 70. Jahrestag seiner Staatsgründung. Seit 2014 regiert die hindu-nationalistische Partei BJP unter Premier Narendra Modi. Wohin steuert das Land?
Setalvad: Wir erleben derzeit einen Kampf um die Seele Indiens. Noch immer gilt die Verfassung von 1950. Unsere Gründerväter haben einen pluralen, den Religionen neutral gegenüberstehenden Staat gegründet – und das, obwohl oder gerade weil sie ja erlebt hatten, wie sich Hindus und Muslime nach der Unabhängigkeit von Großbritannien bis aufs Messer bekämpft hatten. Es gibt keine Staatsreligion; das Verhältnis der Religionen zueinander war lange sehr gut. Wir haben eine lebendige Zivilgesellschaft und starke Institutionen wie die Justiz.
Frage: Und warum gibt es dann einen Kampf um Indiens Seele?
Setalvad: Weil mittlerweile nicht mehr klar ist, ob die Regierung Modi das Konzept von Pluralität, Toleranz und religiöser Vielfalt weiter unterstützt. Es gibt Gesetze, die Nichtregierungsorganisationen behindern oder verbieten. Muslime und Christen und selbst moderate Hindus geraten in verschiedenen Bundesstaaten unter Druck.
Frage: Ist das Regierungspolitik?
Setalvad: Das ist schwer zu sagen. Modi selbst hat sich zu Religionsfreiheit bekannt. Es sind einzelne Politiker seiner Partei, aber vor allem das der Regierungspartei nahestehende nationalistische Hindu-Freiwilligen-Korps (RSS), die das Zusammenleben vergiften. Das RSS propagiert eine fast schon faschistische Ideologie und einen Lebensstil mit Drill, Disziplin und Unterordnung. Dabei werden durchaus Anleihen beim Nationalsozialismus genommen. Vom Weltbild her geht es darum, eine Einheit von Indien und Hinduismus und einen neuen Nationalismus zu propagieren. Modi selbst stammt aus dieser Bewegung.
Frage: Was bedeutet das für die anderen Religionen?
Setalvad: Es gibt eine zunehmende Zahl von Übergriffen gegen Muslime und Christen. Eine US-Kommission zu Religionsfreiheit weltweit beruft sich in ihrem Bericht auf Zahlen des indischen Innenministeriums, nach denen diese Gewalt 2015 um 17 Prozent zugenommen hat. Demnach wurden 97 Menschen getötet und 2.246 verletzt. Für die Christen gibt es eine sichtbare Zunahme von 120 großen Übergriffen auf Christen und ihre Einrichtungen 2014 auf 365 im Folgejahr.
Frage: Was konkret wird den anderen Religionen vorgeworfen?
Setalvad: Christliche Missionare werden immer wieder beschuldigt, indigene Gruppen und Unberührbare (Dalits) abzuwerben. Dies wiederum hat zur Verabschiedung von Gesetzen geführt, die Religionswechsel verbieten – die allerdings für einen Übertritt zum Hinduismus nicht gelten. Heute gibt es in 7 von 29 indischen Bundesstaaten Antikonversionsgesetze.
Im September 2015 wurde ein Muslim von einer Gruppe Hindus gelyncht, die ihn verdächtigt hatten, eine Kuh getötet und das Fleisch während des islamischen Opferfests gegessen zu haben. In 24 Bundesstaaten gibt es gesetzliche Regelungen, die das Schlachten von Rindern und den Verkauf des Fleisches verbieten und Gesetzesbrecher bestrafen. Zuletzt gab es sowohl bei den Antikonversionsgesetzen als auch beim Schlachten von Rindern Bemühungen, landesweite Gesetze einzuführen. Die Propagandamaschine läuft Tag für Tag.
Frage: Wie wollen Sie darauf reagieren?
Setalvad: Wichtig ist zunächst die Erkenntnis, dass es den radikalen Hindus gar nicht so sehr um Religion geht. Es geht um Politik und Macht. Und religiöse Fragen werden instrumentalisiert, um Indien in Richtung Nationalismus und einer vermeintlich homogenen Nation zu verändern. Das geht bis hin zum Umschreiben der Geschichte in den Schulbüchern.
„Was wir brauchen, ist eine breite Massenbewegung, die die Freiheit und den säkularen Staat in Indien verteidigt.“
Frage: Aber noch mal: Was wollen Sie tun?
Setalvad: Leider hat sich die linke Opposition im Land durch Korruption und Streit stark geschwächt. Wir brauchen eine Wiedergeburt der Linken. Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen werden bedroht und angeklagt, weil sie Geld aus dem Ausland bekommen oder vermeintlich gegen indische Interessen verstoßen, wenn sie Kritik üben. Was wir brauchen, ist eine breite Massenbewegung, die die Freiheit und den säkularen Staat in Indien verteidigt. Es geht ums Ganze.
Frage: Sie selbst haben Modi beschuldigt, 2002 als verantwortlicher Politiker in Gujarat die Unruhen gefördert oder zumindest zugelassen zu haben. Erleben Sie selbst Verfolgung?
Setalvad: Ich werde ständig überwacht. Seit 2004 sind mindestens neun Klagen gegen mich erhoben worden. Mir wird Korruption und die illegale Annahme ausländischer Gelder vorgeworfen, ich soll Zeugen aufgehetzt haben. Unserer Organisation wurde die Lizenz entzogen. Es kostet viel Kraft, weil meine Gegner ständig neue Fronten aufmachen.
Von Christoph Arens (KNA)
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