„Ein Ersatz für unsere Heimat“
Bedrängte Christen ‐ In Stuttgart ist das erste Zentrum für Chaldäische Christen in Deutschland eröffnet worden. Mithilfe der Diözese Rottenburg-Stuttgart sanierte die Gemeinde die Räume rund um die katholische Sankt-Paulus-Kirche in Stuttgart-Rohracker. An jedem Wochenende kommen in der Gemeinde bis zu 500 chaldäische Christen zusammen. Die Anzahl der Gläubigen, die der Gemeinde heute angehören, beträgt rund 6.000. Sie leben in verschiedenen Städten inner- und außerhalb der Grenzen der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Etwa 80 Prozent der Christen stammen aus dem Irak. So wie Younia Hilbert, Subdiakonin und Gemeinderätin der Gemeinde. Im Interview erzählt sie, was dieses neue Zentrum für sie und ihre Landsleute bedeutet.
Aktualisiert: 27.10.2017
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In Stuttgart ist das erste Zentrum für Chaldäische Christen in Deutschland eröffnet worden. Mithilfe der Diözese Rottenburg-Stuttgart sanierte die Gemeinde die Räume rund um die katholische Sankt-Paulus-Kirche in Stuttgart-Rohracker. An jedem Wochenende kommen in der Gemeinde bis zu 500 chaldäische Christen zusammen. Die Anzahl der Gläubigen, die der Gemeinde heute angehören, beträgt rund 6.000. Sie leben in verschiedenen Städten inner- und außerhalb der Grenzen der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Etwa 80 Prozent der Christen stammen aus dem Irak. So wie Younia Hilbert, Subdiakonin und Gemeinderätin der Gemeinde. Im Interview erzählt sie, was dieses neue Zentrum für sie und ihre Landsleute bedeutet.
Frage: Frau Hilbert, ein Zentrum für chaldäische Christen wurde am Sonntag in Stuttgart eröffnet. Welche Bedeutung hat dieses Zentrum für die hier lebenden Chaldäer?
Hilbert: Das Zentrum in Stuttgart dient in erster Linie dem Gemeindeleben in Stuttgart. Wir haben auch verschiedene chaldäische Gemeinden und Gruppierungen in Baden-Württemberg verteilt. Hier werden pastorale, seelsorgerische, kulturelle und soziale Dienste geleistet. Es ist für uns nicht nur ein Treffpunkt oder ein Saal, sondern auch ein Ersatz für unsere Heimat. Die Leute treffen sich hier nach im Gottesdienst im Gemeindesaal, tauschen Informationen und Erfahrungen aus. Wer Hilfe bei der Sprache, in der Schule oder bei der Job- und Wohnungssuche braucht, den unterstützen meist unsere jüngeren Gemeindemitglieder.
Frage: 80 Prozent der chaldäischen Christen aus dem Großraum Stuttgart stammen aus dem Irak, je 10 Prozent aus Syrien und der Türkei. Glauben Sie, dass das neue Zentrum in Stuttgart den chaldäischen Christen bei der Integration in Deutschland hilft?
Hilbert: Wir haben schon von Beginn an Brücken zu deutschen Gemeinden gebaut und werden auch künftig einladen zu unseren Gottesdiensten und Info-Abenden. Ich habe selbst in vielen Gemeinden, katholisch wie evangelisch, Vorträge gehalten über die Geschichte der chaldäischen Kirche und die Vertreibung der Christen aus dem Irak. Wir haben Kontakt zu deutschen, aber auch kroatischen Gemeinden, haben Gottesdienste zusammen gefeiert. Jetzt, da wir den Gemeindesaal eröffnet haben, werden wir natürlich noch mehr Aktivitäten anbieten. Gleichzeitig sind wir eine wichtige Anlaufstelle für geflüchtete Christen, die wir mithilfe von Rechtsanwälten über Asylrecht, Aufenthaltserlaubnis und Familienzusammenführung aufklären. Von der Caritas besucht uns zudem einmal wöchentlich eine Fachkraft, die unsere gläubigen Gemeindemitglieder zur Krankenversicherung, Gesundheit, Jobsuche und dem Schulwesen informiert.
Frage: Die katholische St. Paulus-Kirche in Rohracker, in der das Zentrum nun entstanden ist, war zwei Jahre lang verwaist. Die chaldäische Gemeinde hingegen wächst – ist das auch eine Chance für die katholische Kirche?
Hilbert: Ich hoffe es! Wir Christen aus dem Irak haben uns bei unserer Ankunft gedacht: „Super, wir kommen in ein christliches Land mit vielen Kirchen. “ Aber wir waren schockiert, wie wenig Leute sonntags in die Kirche gehen. Ich bin 1986 nach Deutschland gekommen und ich habe die Welt nicht mehr verstanden, warum so wenige Leute in die Kirche gehen. Bei uns im Irak war der Sonntag nur für Kirche und Familienbesuch da. Das, was ich von zuhause mitgenommen habe, versuche ich, meinen beiden Töchtern hier weiterzugeben. Wenn Deutsche zu uns in den Gottesdienst kommen, sind sie glücklich, so viele Kinder und Jugendliche in der Kirche zu sehen. Unser Chor besteht nur aus jungen Leuten. Ich hoffe, dass wir auch deutsche Christen dadurch motivieren können.
Frage: Sie sind in der chaldäischen Gemeinde in Stuttgart Subdiakonin. Was sind da Ihre Aufgaben?
Hilbert: Ich bin zur Subdiakonin geweiht worden; dazu kam extra unser Bischof aus Erbil im Irak nach Stuttgart. Als Subdiakonin bin ich bei jeder Taufe, Trauerfeier, Trauung und an Feiertagen mit dabei am Altar – ehrenamtlich, versteht sich. Dabei trage ich eine Stola, ein Gewand und eine Kopfbedeckung, eine Art Schleier. Ich trage das Weihrauchfass, halte Lesungen und Gebete im Dialog mit dem Priester. Im Notfall, etwa in Kriegszeiten, kann ich auch eine Taufe durchführen. Segnung und Salbung geschieht dann aber durch den Priester. Ich habe auch schon die Taufvorbereitung für zwei Muslime in unserer Gemeinde gestaltet. Es ist viel Arbeit, aber es bereitet mir große Freude.
„Anfangs waren wir schockiert, wie wenige Leute in Deutschland in die Kirche gehen.“
Frage: Wie blicken Sie auf die Situation in ihrer Heimat?
Hilbert: Die Christen im Irak benötigen als verfolgte Minderheit dringend finanzielle und humanitäre Unterstützung. Etwa für den Aufbau ihrer durch den IS zerstörten Häuser. Wenn der Konflikt zwischen der irakischen Zentralregierung in Bagdad und den Kurden sich jetzt verschärft, dann bedeutet das eine neue Auswanderungswelle der Christen. Wenn das geschieht, dann verlieren wir unsere Dörfer, Städte und unsere Geschichte – alles, was wir hatten. Die Lage dort ist sehr kritisch. Die Christen haben auch ihr Vertrauen in die Nachbarn verloren. Auch wenn sie zurückkehren können in ihre Häuser und Städte, haben sie dieses Vertrauen nicht mehr. Denn es ist viel geschehen. Wenn sie bleiben sollen, dann muss der Frieden zwischen den verschiedenen Gruppen und Religionen wiederhergestellt werden. Und das ist ein sehr kompliziertes Thema.
Frage: Umso wichtiger ist ein Zentrum was das jetzt in Stuttgart, das, wie Sie sagen, den Christen aus dem Irak eine neue Heimat geben kann.
Hilbert: Wir danken und beten jeden Tag für die Diözese Rottenburg-Stuttgart, dass wir diese Chance bekommen haben, denn aus der kleinen Gemeinschaft ist eine große Gemeinde geworden. Alle benötigen pastorale Dienste wie Taufe, Kommunion, Trauung und Beerdigung. Wir haben fast jeden Sonntag Taufen. Die Leute kommen ja nicht nur aus Stuttgart, sondern von überall her. Bei einer Trauerfeier kommt bei uns auch die ganze Gemeinde zusammen und es gibt Essen, Kaffee und Kuchen. Wenn ein Familienmitglied einer hier lebenden irakischen Familie im Irak stirbt, feiern wir hier in Stuttgart für es einen Gottesdienst. Das Zentrum ist für die Menschen eine große Hilfe.
Das Interview führte Claudia Zeisel
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