Vielfalt statt Kleinstaaterei

Vielfalt statt Kleinstaaterei

Irak ‐ Die Grenzen der meisten Länder im Nahen Osten wurden nach dem Ersten Weltkrieg von den europäischen Mächten gezogen. Selten orientierten sie sich an den lokalen Gegebenheiten. Heute fordern immer mehr Völker in der Region Autonomie oder Unabhängigkeit. Jüngstes Beispiel sind die Kurden im Irak. Aber bringen neue Grenzen wirklich Frieden?

Erstellt: 05.02.2018
Aktualisiert: 02.02.2018
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Die Grenzen der meisten Länder im Nahen Osten wurden nach dem Ersten Weltkrieg von den europäischen Mächten gezogen. Selten orientierten sie sich an den lokalen Gegebenheiten. Heute fordern immer mehr Völker in der Region Autonomie oder Unabhängigkeit. Jüngstes Beispiel sind die Kurden im Irak. Aber bringen neue Grenzen wirklich Frieden?

Am 2. November 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, veröffentlichte das britische Kriegskabinett folgenden Text: „Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Ziels zu erleichtern.“ Bekannt wurde die Erklärung unter dem Namen des damaligen britischen Außenministers Lord Balfour. Hundert Jahre später, im November 2017, wird um die Bedeutung der Balfour-Erklärung immer noch heftig gerungen.

Die palästinensische Autonomiebehörde fordert von der britischen Regierung eine offizielle Entschuldigung für die Folgen der Erklärung. Aus ihrer Sicht ist sie verantwortlich dafür, dass 1948 bei der Gründung des Staates Israel Hunderttausende arabische Palästinenser aus ihrem Land vertrieben wurden und das palästinensische Volk bis heute nicht selbst über sein politisches Schicksal entscheiden kann. Jüdische Israelis hingegen sehen in der Balfour-Erklärung den entscheidenden Schub für die zionistische Bewegung. Sie hat es ihnen ermöglicht, in einem eigenen Staat zu leben. Die Grenzziehung im Nahen Osten durch die Mandatsmächte England und Frankreich gemäß dem Sykes-Picot-Abkommen und die Balfour-Erklärung werden von Kommentatoren immer wieder als Erklärung für die andauernden Konflikte im Nahen Osten herangezogen. Völker und Stämme seien willkürlich durch unnatürliche Grenzen voneinander getrennt, dafür Menschen unterschiedlicher Religion, Ethnie und Sprache in einem Staat zusammengepfercht worden.

Aber ist das wirklich so? Wären religiös und ethnisch homogene Staaten möglich gewesen? Sind sie überhaupt die bessere Lösung anstelle der kulturellen Vielfalt – oder Zerrissenheit, je nach Sichtweise –, die die Länder des Nahen Ostens auszeichnet? Schauen wir uns die einzelnen Länder etwas genauer an und betrachten wir die unterschiedlichen Gruppen, die darin leben.

Rückblick auf das Jahr 2017. Irak: Der Islamische Staat (IS) ist zwar aus Mossul vertrieben. Aber das Unabhängigkeitsreferendum der Kurden führt zum offenen Konflikt zwischen Erbil und Bagdad. Die Zentralregierung in Bagdad lässt ihre Armee gegen die kurdischen Peschmerga vorrücken. Eine neue Flüchtlingswelle ist die Folge. Syrien: Das Regime von Präsident Baschar al-Assad macht immer weitere Geländegewinne und stabilisiert sich mit Unterstützung Russlands und der schiitischen Hisbollah. Die Folge: Die sunnitische Mehrheitsbevölkerung fühlt sich immer weiter an den Rand gedrängt und fürchtet die Rückkehr der Repression wie zu schlimmsten Zeiten der Assad-Diktatur.

Jerusalem: Die israelische Regierung beschließt den weiteren Ausbau der jüdischen Siedlungen im Westjordanland. Die Palästinenser müssen ohnmächtig zusehen, wie die Zwei-Staaten-Lösung in immer weitere Ferne rückt. Frustration und die Gefahr neuer Gewalt machen sich breit. Haben die Konflikte heute wirklich mit den Grenzen zu tun, die vor hundert Jahren gezogen wurden? Im Irak leben Schiiten, Sunniten und Kurden seither in einem Staat zusammen. Schon damals machten sich allerdings auch die Christen, die sich selbst Assyrer nennen, Hoffnungen auf einen eigenen Staat. Heute streben viele von ihnen wieder nach Autonomie im Nordirak. Im gleichen Gebiet leben aber auch Kurden und nicht wenige sunnitische Araber. Lassen sich hier wirklich Staaten oder Autonomiegebiete bilden, die religiös oder ethnisch einheitlich sind?

Die Stadt Kirkuk bildet quasi einen Irak im Kleinen: Sunniten, Schiiten, Kurden, Assyrer und Turkmenen leben auf engstem Raum zusammen. Wohin soll die Stadt also gehören? Zum schiitischen Süden, zum sunnitisch-arabischen Norden oder zum Kurdengebiet? Was für den Irak gilt, gilt auch für Syrien: Zwar lebt die Minderheit der Alawiten, der Baschar al-Assad angehört, überwiegend im Nordwesten des Landes, aber eben nicht allein. Sunniten stellen auch hier einen erheblichen Anteil. Ebenso in Nordostsyrien: Kurden, sunnitische Araber und christliche Syrer leben dort zusammen. Keine geeignete Grundlage für einen kurdisch dominierten Staat, wie ihn bestimmte Gruppen fordern. Christen leben überall in Syrien. Ethnisch definieren sie sich als Araber, Armenier, Assyrer und Aramäer. Was wird aus ihnen bei einer Zersplitterung des Landes?

Und dann Israel und Palästina: Jüdische Siedlungen gibt es inzwischen fast überall im Westjordanland. Die israelische Seite wird kaum bereit sein, diese Siedlungen wieder aufzugeben. Ein zusammenhängender palästinensischer Staat ist somit unmöglich. Das will aber keiner offiziell eingestehen. Fast alle halten an der Zwei-Staaten-Lösung fest, auch wenn der Palästinenserstaat kaum lebensfähig sein wird. Aber ist das Zusammenleben von Palästinensern und Israelis in einem Staat überhaupt möglich?

Ein Vorbild für das Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen in einem Staat könnte der Libanon sein. Offiziell anerkannt sind dort 18 konfessionell definierte Gemeinschaften: zwölf christliche, fünf muslimische und die verschwindend kleine jüdische. Die scharfe Trennung zwischen den Gemeinschaften – interreligiöse Heiraten sind nur im Ausland möglich – und das beharrliche Festhalten an der konfessionellen Verteilung aller politischen Ämter lassen das Modell zwar auf den ersten Blick wenig verlockend erscheinen.

Zwei Dinge macht der Libanon aber deutlich: Staatliche Grenzziehungen nach ethnischen oder religiösen Kriterien sind im Nahen Osten ein Ding der Unmöglichkeit. Pluralität zu leben, ist zwar schwierig, aber doch möglich. Und während des blutigen Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 haben die Libanesen eines gelernt: Keiner kann in diesem Staat die Macht für sich allein erringen. Alle Versuche, dies aus eigenen Kräften oder mit der Hilfe ausländischer Verbündeter zu erkämpfen, sind gescheitert. Am Ende steht eine typisch libanesische Formel: „Kein Sieger und kein Besiegter“. Der Patriarch der maronitischen Kirche, Kardinal Béchara Pierre Raï, nennt den Libanon ein Mosaik, in dem jede Gruppe ein farbiges Steinchen ist und das Ganze ein Bild ergibt. Die unterschiedlichen Gruppen seien gleichberechtigt. Nur ein Staat, der wie der Libanon keine Staatsreligion für sich in Anspruch nimmt, kann nach Auffassung des libanesischen Kirchenführers die Gleichheit und das friedliche Zusammenleben seiner Bürger garantieren.

Aber auch das libanesische Modell muss weiterentwickelt werden. Der Gründer der Stiftung Adyan zur Förderung des interreligiösen Dialogs, Fadi Daou, sieht die Zukunft in einer „interkulturellen Staatsbürgerschaft“. Im Unterschied zum Säkularismus, der die Religion aus dem öffentlichen Leben ausklammert, nimmt dieses Konzept die positiven Aspekte aus den unterschiedlichen Religionen auf. Daraus entwickelt Fadi Daou eine neue Art des gesellschaftlichen Mitwirkens, fordert ein echtes Miteinander, in dem die Anliegen der Anderen als bereichernd wahrgenommen werden. Der Rückzug in die eigene Gemeinschaft, sei sie muslimisch, christlich, jüdisch, sei unbedingt zu vermeiden.

Damit wird aber gerade das Streben nach homogenen Autonomiegebieten, unabhängigen Staaten oder konfessionellen Sonderrechten abgelehnt. Statt über immer neue Grenzen nachzudenken, sollte das Zusammenleben neu organisiert werden. Frieden wird nicht durch Abgrenzung erreicht, sondern durch Zusammenarbeit. Aber ist der Nahe Osten schon so weit? Die aktuellen Kriege und Konflikte haben das Misstrauen zwischen den Volks- und Religionsgruppen noch erhöht und damit die Tendenz zur Abschottung. Es wird schwer sein, vom Gegeneinander zunächst einmal zu einem Nebeneinander zu kommen. Bis zu einem echten Miteinander ist der Weg noch sehr, sehr weit.

Von Matthias Vogt

Dr. Matthias Vogt, Islamwissenschaftler und Nahostexperte, ist stellvertretender Leiter der Auslandsabteilung von Missio.

Der Beitrag erschien in der Januarausgabe 2018 des Missionsmagazins „kontinente“.

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