
„Eritrea ist ein Land im Ungewissen“
Friedensarbeit ‐ Nach dem Friedensschluss zwischen den Erzfeinden Eritrea und Äthiopien vergangenen Sommer ist die Hoffnung in der eritreischen Bevölkerung auf Entspannung und mehr Freiheiten groß. Doch die Pläne der Regierung liegen weitestgehend im Dunkeln, weiß Misereor-Vorstand Dr. Martin Bröckelmann-Simon.
Aktualisiert: 28.01.2019
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Nach dem Friedensschluss zwischen den Erzfeinden Eritrea und Äthiopien vergangenen Sommer ist die Hoffnung in der eritreischen Bevölkerung auf Entspannung und mehr Freiheiten groß. Doch die Pläne der Regierung liegen weitestgehend im Dunkeln, weiß Misereor-Vorstand Dr. Martin Bröckelmann-Simon.
Herr Bröckelmann-Simon, Sie kommen von einer Eritrea-Reise zurück. Dort wurde vor einem halben Jahr Frieden mit dem Erzfeind Äthiopien geschlossen. Wie haben Sie die Veränderungen im Alltag wahrgenommen?
Bröckelmann-Simon: Durch die offenen Grenzen zu Äthiopien hat sich das Warenangebot vermehrt und die Preise sind gesunken. Bei wichtigen Gütern wie beispielsweise Zement ist der Preis um zwei Drittel gesunken. Das freut die Menschen und stimmt sie hoffnungsvoll. Sie freuen sich, dass endlich Frieden ist. Wenn man im Flugzeug von Addis Abeba nach Asmara sitzt, trifft man viele Menschen, die Verwandte nach vielen Jahren wiedersehen werden. Da ist die Vorfreude groß.
Zugleich gibt es aber auch viel Unsicherheit darüber, wie es in Eritrea weitergeht. Die Informationslage dort ist nach wie vor sehr schlecht, da es keine freie Berichterstattung gibt. Man kann sich natürlich durch den vielfachen Austausch mit Äthiopien Informationen beschaffen. In Äthiopien hört man sehr viel über die Dynamik und Geschwindigkeit des Wandels. Doch die Eritreer fragen sich: Wie sieht es denn eigentlich mit den Plänen unserer eigenen Regierung aus, nachdem die äußere Bedrohung jetzt weggefallen ist? Eritrea ist ein Land im Ungewissen. Es gibt viele Skeptiker, die bezweifeln, dass sich innenpolitisch etwas ändert. Aber es gibt auch die Hoffnungsvollen, die dem Prozess Zeit geben wollen und sagen: „Wir haben so viele Jahre auf den Wandel gewartet, da kommt es nun auf ein Jahr mehr oder weniger nicht an. Wichtig ist doch erstmal, dass Frieden herrscht.“ Es bleiben aber große Herausforderungen, die das Land zu bewältigen hat.

„Nach dem Friedensschluss nach Außen muss der Friedensschluss nach Innen folgen.“
Frage: Zum Beispiel?
Bröckelmann-Simon: Der Klimawandel führt dazu, dass sich die Häufigkeit der Dürren am gesamten Horn von Afrika verdoppelt hat. In Eritrea gibt es mittlerweile fast alle zwei Jahre eine dramatische Dürre. Es gibt viele Herausforderungen bei der Verbesserung der Infrastruktur und der Wasserversorgung. In vielen Dörfern sind aufgrund des früheren Konflikts nur noch alte Menschen und Frauen anzutreffen. Verbesserungen für die Infrastruktur gibt es vor allem auf den Hauptverkehrsstraßen von Äthiopien Richtung Rotes Meer. Äthiopien hat natürlich ein großes Interesse an der Nutzung der eritreischen Häfen Massaua und Assab. Bislang war das Land vom Meer abgeschnitten.
Frage: Inwiefern spielen da auch geopolitische Ziele mit hinein? Immerhin hat der Hafen Assab auch eine Marinebasis für den Jemenkrieg geschaffen.
Bröckelmann-Simon: Äthiopien hat mit Sicherheit in erster Linie Interesse an Frieden, weil es für das Land bislang eine sehr belastende und auch wirtschaftlich nachteilige Situation war. Aber es gibt natürlich ein massives Interesse Äthiopiens am Zugang zum Meer. Jenseits des nicht zu bestreitenden Reformwillens des äthiopischen Präsidenten Abiy Ahmed ist das sicher der Hauptantriebsgrund für den Frieden mit Eritrea gewesen. Im Grunde geht das, was vom äthiopischen Präsidenten vorgeschlagen wurde, weit über die beiden Länder hinaus und bedeutet möglicherweise eine Neuordnung der Verhältnisse am ganzen Horn von Afrika.
Frage: Inwiefern?
Bröckelmann-Simon: Es gibt den Vorschlag, einen Staatenverbund zwischen Eritrea, Dschibuti und Äthiopien zu gründen und die Länder eng miteinander zu verknüpfen. Eine Region, die von massiven Spannungen und militärischen Auseinandersetzungen geprägt war, jetzt in einen Verbund mit allseits offenen Grenzen hineinzubringen, ist ein sehr weitgehender Vorschlag. In einem Zusammenschluss liegen enorme Entwicklungschancen, weil diese hermetisch abgeriegelten Grenzen viele Probleme für alle Menschen mit sich gebracht haben. Ich denke da an die in allen Ländern ansässigen Wanderhirten, die die Grenzen nicht überschreiten konnten mit ihrem Vieh auf der Suche nach den jeweils günstigen Weidegründen. Auch mit Somalia oder Sudan, zu denen Eritrea bislang auch keine Verbindungen hatte, könnte sich das Verhältnis weiter entspannen. Ich nehme aus meinem Besuch in Eritrea mit: Es gibt viel Hoffnung, aber natürlich auch Sorge, dass die Ungeduld in der Hoffnung auf den Wandel sehr groß wird und damit auch die Unzufriedenheit sich möglicherweise doch gewalttätig Bahn bricht.
Frage: Dazu kam es ja bereits kurz nach Abschluss des Friedensabkommens in Äthiopien. Die Proteste entzündeten sich an ethnischen Spannungen. Inwiefern spielen ethnische Grenzen dort eine stärkere Rolle als Landesgrenzen?
Bröckelmann-Simon: Die ganze Region ist ethnisch-kulturell miteinander verwoben und insofern sind kolonial gezogene Grenzen ein Hindernis. Es befinden sich gleiche ethnische Gruppen überall, in Äthiopien, Dschibuti und Eritrea. Insofern sind wegfallende Grenzen durchaus ein Vorteil für die Minderung von ethnischen Spannungen – insofern es gelingt, einen Ausgleich zu schaffen. Eritrea ist auch ein Vielvölkerstaat mit neun verschiedenen Ethnien, die zum Teil auch sehr unterschiedliche Sprachen sprechen. Zwischen ihnen gibt es aber keine ethnischen Spannungen, anders als in Äthiopien. Das hat auch mit der Geschichte der miteinander konkurrierenden Befreiungsbewegungen dort zu tun. Sie befürchten jetzt, dass ihre Interessen hinten 'runterfallen könnten. Die Tatsache, dass es in Äthiopien gelungen ist, diese Spannungen wieder aufzufangen, zeigt, dass man auf dem richtigen Weg ist. Man darf die Völker nicht gegeneinander ausspielen, es muss einen vernünftigen Interessenausgleich geben. Das ist die große Herausforderung für den gesamten Friedensprozess.
Frage: Wie hat sich das Friedensabkommen auf die Binnenflüchtlinge ausgewirkt? Und gibt es spürbare Veränderungen bei den Flüchtlingszahlen nach Europa?
Bröckelmann-Simon: Es ist noch zu früh, um da gesichert von Veränderungen zu sprechen. Es hängt sehr von dem innenpolitischen Prozess im Land ab. Mittlerweile ist ja die Hälfte der Bevölkerung Eritreas außer Landes. Durch die offenen Grenzen kam es auch zu einem Anstieg der Bewegungen nach Äthiopien. In die menschliche Mobilität zwischen Eritrea und Äthiopien ist insgesamt Bewegung gekommen – nicht nur im Rahmen von Flucht, sondern vielleicht künftig auch als normaler Austausch, wie wir ihn hier in Europa mit der Freizügigkeit ebenfalls haben. Ziel ist es ja, dass dies auch wirklich zur Normalität wird. Ob das gelingt, hängt aber von der innenpolitischen Dynamik von Eritrea ab und der Frage, ob dem Friedensschluss nach Außen auch der Friedensschluss nach Innen folgt.
Frage: Immerhin gilt der eritreische Machthaber Afewerki als Diktator, Hunderttausende Eritreer müssen Wehrdienst und Zwangsarbeit auf unabsehbare Zeit verrichten. Glauben Sie, dass sich die Menschenrechtslage auf absehbare Zeit entschärft?
Bröckelmann-Simon: Die äußere Bedrohung, mit der die eritreische Regierung ihr striktes Vorgehen gegen die Bevölkerung politisch begründet hatte, ist nun ja weggefallen. Die kommenden Monate müssen zeigen, was sich tut. Die Ungeduld und der Unmut im Land wachsen, weil der Erwartungsdruck hoch ist. Schließlich kann man jetzt zwischen den beiden Ländern vergleichen und es gibt viel mehr Informationsaustausch als vorher.
Frage: Könnte es für Präsident Isayas Afewerki eng werden?
Bröckelmann-Simon: Im Moment gibt es dafür keine Anzeichen. Der Frieden zwischen Eritrea und Äthiopien wird ja immer mit dem Mauerfall verglichen. Der Unterschied aber ist: Die „Mauer“ zwischen diesen beiden Ländern ist nicht aufgrund von einer Volksbewegung von unten „gefallen“, sondern durch ein Dekret zweier Präsidenten „von oben“. Insofern ist die Tatsache, dass Eritrea jetzt offene Grenzen hat, kein Anzeichen dafür, dass es eine Veränderungsbewegung von unten gibt. Das passiert wohl eher durch eine Lockerung der Haltung der Regierung. Auf jeden Fall kommt von außen „Wind“ ins System. Eine offene Tür, auch wenn sie erst mal nur einen Spalt weit offen ist, kann der erste Schritt zum Wandel sein.
Das Interview führte Claudia Zeisel.
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