Franziskus' Traum von einer besseren Welt

Franziskus' Traum von einer besseren Welt

Enzyklika ‐ Einen „demütigen Beitrag zum Nachdenken“ nennt Franziskus seine Enzyklika „Fratelli tutti“. Doch was ihn dazu antreibt, wiegt schwer.

Erstellt: 04.10.2020
Aktualisiert: 05.10.2020
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Der Papst träumt: Es müsse eine Welt möglich sein, in der sich Menschen als Brüder und Schwestern anerkennen, Konflikte im Dialog lösen und auf dem Weg der Entwicklung niemanden zurücklassen, sondern allen Raum zur Mitgestaltung geben. Das sei „keine pure Utopie“. Mit der Hoffnung seiner 83 Jahre hat Papst Franziskus seine Vision den katholischen Gläubigen und der gesamten Welt als Lehrschreiben vorgelegt.

Einen „demütigen Beitrag zum Nachdenken“ nennt Franziskus seine Enzyklika „Fratelli tutti“. Doch was ihn dazu antreibt, wiegt schwer: die globale Ungleichverteilung von Ressourcen und Chancen, die Ausgrenzung ganzer Schichten und Nationen, eine ungebrochene Tendenz, Eigeninteressen den Vorzug vor Solidarität zu geben. Die Covid-Pandemie hat es für den Papst als trügerische Illusion entlarvt, „zu glauben, dass wir allmächtig sind, und zu vergessen, dass wir alle im gleichen Boot sitzen“.

Zu seinem Plädoyer für „Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft“, wie die 150-seitige Schrift im Untertitel heißt, ließ sich Franziskus von Ahmad Al-Tayyeb anregen, dem Großimam der Kairoer Al-Azhar-Universität, mit dem er 2019 in Abu Dhabi ein „Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen“ unterzeichnete. Eher unüblich für die Vorstellung einer päpstlichen Enzyklika, saß am Sonntag im Vatikan der Scharia-Gelehrte Mohamed Abdel Salam auf dem Podium. Er bekannte sich als Muslim „in Einklang mit dem Papst“.

Franziskus selbst nennt Nichtkatholiken wie den US-Bürgerrechtler Martin Luther King, den südafrikanischen Anglikaner Desmond Tutu und Mahatma Gandhi als Inspirationsquellen. Allein das dürfte ultrakonservativen Katholiken reichen, um den Papst abermals der Häresie zu bezichtigen. Dabei ist das, was er sagt, größtenteils nicht neu und steht in der Tradition seiner Vorgänger.

In dem 287 Artikel umfassenden Text wirbt Franziskus dafür, nach dem Vorbild des heiligen Franz von Assisi (1181/82-1226) andere Menschen unabhängig von Herkunft oder sozialer Zugehörigkeit in freundschaftlicher Offenheit „anzuerkennen, wertzuschätzen und zu lieben“. Wer meine, die globalen Probleme nach der Corona-Krise mit den alten Systemen lösen zu können, sei „auf dem Holzweg“.

Hatte er in seiner Umweltenzyklika „Laudato si“ 2015 den Blick auf die Erde als „gemeinsames Haus“ gelenkt, das es für künftige Generationen zu erhalten gelte, so skizziert er in „Fratelli tutti“ die Umgangsregeln für die Hausbewohner. Eine Kerneinsicht, die nicht zuletzt aus seiner Spiritualität als Jesuit schöpft: Was den Menschen ausmacht, bestimmt sich nach seinem Verhältnis zu den Mitmenschen.

Von dort aus dekliniert der Papst Selbstbezogenheit als Grundübel und ihr Heilmittel, liebende Öffnung, auf allen Ebenen durch. Wie in früheren Äußerungen wendet er sich gegen das Diktat von Profit- und Machtinteressen. Gegen die Armut und Ausgrenzung hilft ihm zufolge nur eine echte Beteiligung der betreffenden Personen und Gruppen an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen. Eine Hilfe, die neue Abhängigkeiten schafft oder kulturelle Identitäten der Völker missachtet, lehnt er als verkappten Kolonialismus ab.

Zur Lösung von Konflikten setzt Franziskus auf Dialog und internationale Vermittlung. Nationale Interessen haben sich dem globalen Gemeinwohl unterzuordnen. Die Rolle der Vereinten Nationen will der Papst gestärkt sehen, Krieg und Rüstung als Mittel der Politik weist er rigoros zurück.

Zum Thema Migration betont Franziskus, solange in den Herkunftsländern die Bedingungen für ein Leben in Würde fehlten, gelte es das Recht eines jeden Menschen zu respektieren, einen Ort für die Verwirklichung seiner Person zu finden. Jedes Land sei „auch ein Land des Ausländers“; die Güter eines Territoriums dürften „einer bedürftigen Person, die von einem anderen Ort kommt, nicht vorenthalten werden“. Unterschiedliche Kulturen sieht er dabei nicht als Hindernis, sondern als Bereicherung.

Der wohl bekannteste Traum eines Papstes ist der von Innozenz III., dem der heilige Franz von Assisi erschien, wie er die wankende Kirche stützt. Giotto malte die Szene in einem berühmten Fresko in der Basilika San Francesco in Assisi. Der heutige Papst träumt, wie eine Welt, die „ohne einen gemeinsamen Kurs läuft“ und immer mehr aus den Fugen gerät, von Gläubigen aller Religionen und auch Nichtglaubenden gestützt wird. Am Samstag unterzeichnete er seine Enzyklika just in jener Basilika am Grab des heiligen Franziskus.

Misereor: Papst-Enzyklika stärkt Kampf um Menschenrechte

Als Rückenstärkung für diejenigen, die gegen nationale Alleingänge und ein allein an Profit und Wachstum orientiertes Wirtschaftssystem kämpfen, sieht das katholische Entwicklungshilfswerk Misereor die neue Papst-Enzyklika. Das am Sonntag veröffentlichte Schreiben unterstütze alle, die sich jenseits von Religions- und Landesgrenzen weltweit für den Erhalt der Schöpfung einsetzten, Menschenrechtsverletzungen anprangerten und sich nicht selten dafür in Lebensgefahr begeben, erklärte Misereor-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel am Sonntag in Aachen.

„Angesichts der aktuellen weltpolitischen Situation mit existenziellen Krisen wie dem Klimanotstand, brennenden Regenwäldern, 690 Millionen chronisch Hungernden, schutzlosen Geflüchteten und der die weltweiten Missstände nochmals offenlegenden Corona-Pandemie kommt die Enzyklika des Papstes mehr als zur rechten Zeit“, sagte er.

Spiegel verwies auf ein hohes persönliches Engagement von Papst Franziskus für die Zukunft der Menschheit. „Das schließt zugleich untrennbar mit ein, auch auf die eigene Kirche zu schauen, selbst strukturelle Konsequenzen zu ziehen und konkret zu werden: Machtverhältnisse, die diskriminierend und ausschließend sind zu überwinden, Gleichberechtigung der Geschlechter umzusetzen, gesellschaftliche Veränderungen als Zeichen der Zeit wahr- und ernst zu nehmen und kulturelle Vorherrschaften infrage zu stellen.“

Kardinal Marx: Diese Enzyklika kommt zur rechten Zeit

Der Münchner Kardinal Reinhard Marx hat die neue päpstliche Enzyklika „Fratelli tutti“ einen hochaktuellen und bedeutsamen Text „zur rechten Zeit“ genannt. Er sei dankbar, dass Papst Franziskus seine Stimme so deutlich erhebe, „um den Beitrag der Kirche, ja aller Religionen, zur Lösung der aktuellen Krisen, die unsere Welt erschüttern, einzufordern und einzubringen“, erklärte Marx am Sonntag in München.

Das katholische Kirchenoberhaupt antworte angesichts der gegenwärtigen Krisen mit „einem neuen Traum der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft“, der viele Menschen in aller Welt bewege. Er schließe damit an die großen Sozialenzykliken früherer Päpste an.

Durch die Corona-Pandemie sei eine tiefe Sehnsucht nach Frieden, nach Gerechtigkeit, nach Versöhnung und vor allem nach Zusammenhalt wie in einem Brennglas deutlich geworden, erklärte der Kardinal. Dies gelte auch für die weltweite gegenseitige Abhängigkeit und den Mangel an wirksamer globaler und multilaterialer Kooperation. Der Papst analysiere klar, dass die Pandemie die falschen Sicherheiten offengelegt habe und es kein „Weiter so, wie vorher“ geben könne. Notwendig sei ein umfassend neues Denken und daraus folgendes Handeln einer geeinten Menschheitsfamilie.

Franziskus bleibt nach den Worten von Marx keineswegs bei der Vision stehen, sondern nehme zu aktuellen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaften Fragen Stellung. Er thematisiere unter anderem Fragen der Migration, der Ökologie, der Digitalität, des Multilateralismus. Er äußere sich deutlich abgrenzend zu den scheinbar verlockenden und simplen ideologischen Antwortangeboten von Nationalismus, Populismus und Rassismus. Eindeutig lehne er Krieg und Todesstrafe ab.

Zugleich wiederhole der Papst seine Mahnung, keine neuen Grenzen und Mauern zwischen Menschen und Völkern zu errichten, sagte der Kardinal. Vielmehr gelte es, bestehende Grenzen gesellschaftlicher, ökonomischer und zwischenmenschlicher Natur zu überwinden. Ein Anlass für diese Enzyklika sei sicher auch die große Sorge des Papstes um den Frieden in der Welt und auch um den Frieden zwischen den Religionen. Es gehe ihm darum, alle Religionen – „auch das Christentum!“ – vor der Gefahr der Instrumentalisierung durch fundamentalistische und terroristische Kräfte zu warnen und sich davon zu distanzieren.

Genn: ‚Fratelli Tutti’ macht deutlich, dass es ein ‚Weiter so’ in unserer Welt nicht geben darf.

Auch Münsters Bischof Dr. Felix Genn äußerte sich zur Enzyklika „Fratelli tutti – Über die Geschwisterlichkeit und die Soziale Freundschaft“, die Papst Franziskus am Samstag in Assisi unterzeichnet hat und die am Sonntag veröffentlicht wurde. In einer ersten Stellungnahme schrieb er, die Weltgemeinschaft brauche eine radikale Veränderung hin zur Geschwisterlichkeit, zu der alle aufgerufen seien. Niemand, kein Mensch, dürfe ausgegrenzt werden. „In unsere heutige Welt hinein macht der Papst zum Beispiel konkret deutlich: Jeder Mensch hat dieselbe Würde; unser Nächster ist ein Migrant; Nationalismus, grenzenloser Konsum, unbegrenzter Wirtschaftsliberalismus, eine Wegwerfgesellschaft, Krieg, Atomwaffen, die Todesstrafe, eine Politik der Abschottung von Migranten sowie Populismus gehören abgeschafft.“

Es sei ein beeindruckender Text, der die christliche Botschaft der Nächstenliebe in konkrete Optionen einer Haltung der Hoffnung und eines Handelns in Geschwisterlichkeit und Solidarität übersetze, so Genn.

© Text: KNA / Bistum Münster