Überleben – ohne Land?

Überleben – ohne Land?

Gerechtigkeit ‐ In Lateinamerika ist die Landverteilung so ungleich wie sonst nirgendwo auf der Welt. Ein wesentlicher Teil des fruchtbaren Landes ist in den Händen einiger weniger Großgrundbesitzer, die meisten Kleinbauern besitzen dagegen nur wenig oder gar kein Land.

Erstellt: 05.12.2020
Aktualisiert: 13.02.2023
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In Lateinamerika ist die Landverteilung so ungleich wie sonst nirgendwo auf der Welt. Ein wesentlicher Teil des fruchtbaren Landes ist in den Händen einiger weniger Großgrundbesitzer, die meisten Kleinbauern besitzen dagegen nur wenig oder gar kein Land. Beispiele aus Honduras und Argentinien zeigen, dass Überleben nur auf dem eigenen Land möglich ist.

Die Berge schimmern in allen Schattierungen von Grün: Wald, Palmen, Bananenstauden. Dazwischen liegt ein kleines Feld, auf dem einige Männer in gebückter Haltung den Boden umpflügen. Auf ihren paar Hektar Land, die wie eingezwängt zwischen den großen Plantagen liegen, pflanzen sie Mais und Bohnen an. Am Feldrand plärrt ein kleines batteriebetriebenes Radio. Die Arbeit ist hart, der Ertrag mager. Und das Wenige muss auch noch zwischen allen aufgeteilt werden. Das fruchtbare Ackerland um sie herum gehört Großgrundbesitzern, die hier Palmöl, Bananen und Kaffee anbauen. „Wir können froh sein, dass wir wenigstens etwas ernten, dass wir überhaupt Land haben“, sagt Pedro Muñoz.

Der ausgemergelte Mann lebt in El Pital, einem Dorf im Nordosten von Honduras, eine Stunde zu Fuß von dem Gemeinschaftsfeld entfernt. Dicht gedrängt wohnen die Menschen hier zwischen den Bergen, viele Häuser stehen am Hang. Alle Dorfbewohner sind Bauern, viele von ihnen besitzen kein eigenes Land. Sie arbeiten auf den umliegenden Plantagen. Der karge Lohn reicht kaum aus, um ihre Familien zu ernähren. „Von den zehn Kindern, die Gott mir schenkte, habe ich acht großziehen können. Ein Wunder! Denn ich hatte nur dünne Bohnensuppe und manchmal Reis“, erzählt Gloria Lara, Pedro Muñoz’ Frau. „Geld, um etwas zu kaufen, habe ich bis heute nicht.“ Sie sitzt auf einer wackeligen Bank vor ihrem einfachen Lehmhaus. Im Vergleich zu vielen anderen hatte sie Glück: Ihr Mann erbte einen Anteil des Gemeinschaftslandes von seinem Vater, der es in den 1980er-Jahren zusammen mit anderen Dorfbewohnern besetzt hatte.

Bild: © Jürgen Escher/Adveniat

Damals war es in Honduras möglich, nicht bewirtschaftetes Land zu enteignen und an Landlose zu übertragen. In der Praxis wurde das Land jedoch häufig nur vergeben, wenn die Bauern selbst die Initiative ergriffen und es besetzten. 1992 erließ die honduranische Regierung dann aber ein Gesetz, das den Verkauf von Land erlaubt, das Kleinbauern-Kooperativen, wie der von Pedro Muñoz, gehört. Zudem erschwert das Gesetz den Zugang zu ungenutztem Land. Seitdem werden besetzte Landstriche immer wieder von Militär und Polizei geräumt. „Wir haben große Angst“, sagt Pedro Muñoz. „Was sollen wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen?“ Mehr als die Hälfte der vier Millionen honduranischen Kleinbauernfamilien lebt in absoluter Armut, rund 300.000 von ihnen haben keinen Zugang zu Land. Deswegen verlassen viele, vor allem Jüngere, ihre Heimat. Von 100 Migranten stammen 87 aus ländlichen Regionen. Sie suchen in den Städten ihr Glück oder verlassen Honduras Richtung USA.

Bild: © Jürgen Escher/Adveniat

„Die Menschen auf dem Land spüren die Konsequenzen unserer korrupten und kriminellen Regierung am stärksten. Sie leiden an Mangelernährung, Hunger, Krankheiten, Arbeitslosigkeit, Wassermangel“, erklärt Padre Ismael Moreno Coto. „Deswegen haben wir bei Radio Progreso die Aufgabe, diese Menschen zu verteidigen, ihnen eine Stimme zu geben.“ Der Priester ist der Leiter des mittlerweile fast einzigen unabhängigen Radiosenders, der im ganzen Land empfangen werden kann. Regelmäßig besuchen er und seine Mitarbeiter ländliche Gemeinden, um über die Situation vor Ort zu berichten. Unterstützung erhalten sie dabei vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat.

„Wir möchten auf dem Land leben. Das Leben hier ist hart, aber wir helfen uns gegenseitig und kämpfen zusammen“, sagt Gloria Lara. Ihr gemeinsamer Kampf gilt vor allem einer gerechten Land- und Ressourcenverteilung und einem guten Bildungs- und Gesundheitssystem. „Dabei haben wir wichtige Unterstützung von Radio Progreso“, sagt sie. „Ohne ihre Berichterstattung wäre es unmöglich.“ Und zusammen sind sie stark: 400 Bürger von El Pital setzten mit Protesten und Straßensperren durch, dass die Regierung die Zugangsstraße zum Dorf ebnete und eine Gesundheitsstation sowie elektrisches Licht genehmigte.

Zukunft selbst bestimmen

Auch im Dorf Cabrería im Nordwesten Argentiniens haben jetzt 30 Familien Strom für Licht, Kühlschrank und Maschinen. Hier half die Kirche mit einem Solarprojekt, initiiert von Padre Lucas Galante, unterstützt vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat. Seitdem kehren immer mehr junge Familien in das Dorf zurück. So wie der 42-jährige Hector Yapura mit seiner Frau und den beiden Kindern. 14 Jahre lang arbeitete er als Koch in Buenos Aires, jetzt ist er wieder Bauer. „Ich konnte mir ein Auto kaufen und meine Kinder in der Stadt auf eine gute Schule schicken. Aber ich wurde fünf Mal überfallen“, erzählt er. „Hier leben wir sicher, frei und umsonst.“ Denn das Land gehört ihm.

Bild: © Jürgen Escher/Adveniat

Cabrería liegt am Osthang der Anden in einem grünen Tal, das mehr eine Hochebene ist. Eine staubige Buckelpiste führt dorthin, vorbei an atemberaubenden Schluchten und Felsformationen. Die wunderschöne Landschaft zwischen den majestätischen Bergen kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eine der ärmsten Regionen des Landes ist. Früher war Cabrería Teil einer Finca. „Meine Großeltern haben sehr gelitten. Sie mussten für den Patrón arbeiten und zahlen, wenn sie Tiere halten wollten“, erzählt Hector. Vor ungefähr 30 Jahren verkaufte der Großgrundbesitzer einen Teil seines Landes zu einem fairen Preis an die Arbeiter. Nun gehört jeder Familie das Land, auf dem ihr einfaches Lehmhaus steht, und dazu noch einige Hektar Feld nebendran. Nur der immer stärker werdende Wassermangel treibt den Menschen hier die Sorgenfalten auf die Stirn. Um damit besser umgehen zu können, haben sie in der Dorfgemeinschaft eine Regelung getroffen und teilen sich die Bewässerung der Felder auf. „Wir haben kein Geld, aber Land und somit genug zu essen“, sagt Hector, schiebt seinen Hut aus dem Gesicht und stützt sich auf die Hacke.

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Hector hat Träume. Zusammen mit seinem Cousin Jacobo Andrés Yapura plant er ein Tourismusprojekt. Von Jacobos Elternhaus aus führt eine halbstündige Wanderung zu warmen Thermalquellen, die sich in einer grünen Schlucht verbergen. Eine Attraktion, die immer mehr Touristen anzieht. „Wir möchten sie bei uns willkommen heißen und auch von dem natürlichen Reichtum profitieren, der auf unserem Land liegt“, erklärt Jacobo. Der 38-Jährige hat auf dem Terrain seiner Familie bereits einfache Unterkünfte aus Lehm errichtet, Hector möchte in einem Anbau an seinem Haus ein kleines Restaurant eröffnen. „Jetzt wo wir Strom haben, können wir den Touristen endlich etwas bieten. Touristen brauchen ja Strom“, meint Jacobo. „Ich werde nie wieder weggehen“, sagt Hector bestimmt. „Nirgendwo werde ich meine Zukunft so frei gestalten können, wie hier auf meinem eigenen Land.“

© Text: Christina Weise/Adveniat