Neuanfang in Chile mit jungem Hoffnungsträger

Neuanfang in Chile mit jungem Hoffnungsträger

Santiago ‐ Mit Gabriel Boric übernimmt in Chile ein vielversprechender Hoffnungsträger das höchste Staatsamt. Seine Unterstützer erwarten von ihm vor allem eines: mehr soziale Gerechtigkeit.

Erstellt: 11.03.2022
Aktualisiert: 22.06.2022
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Die Erwartungshaltung ist groß, die Herausforderungen sind es ebenso. Wenn am Freitag Gabriel Boric (36) sein Amt als neuer Präsident Chiles antritt, schließt sich ein Kreis. Der nahm seinen Anfang bei den Sozialprotesten vor mehr als drei Jahren und mündete schließlich in die Wahl eines Verfassungskonvents. Und nun folgt die Kür des ehemaligen Studentenführers zum neuen Staatsoberhaupt.

Ein zentrales Thema der neuen Präsidentschaft ist die Hoffnung auf eine sozial gerechtere Politik, die gut die Hälfte mit der Wahl Borics verbinden. Im weitesten Sinne betrifft das auch die Spannungen mit den indigenen Ureinwohnern der Mapuche, die endlich ein Ende der strukturellen Benachteiligung fordern – in der Verfassung wie in der Realpolitik.

„Die Erwartungen der Indigenen an die Regierung Boric sind hoch“, sagt Yvonne Bangert, Referentin für indigene Völker bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). „Da klingt es vielversprechend, dass er einen fairen Dialog mit den Mapuche in der Araucania zugesichert hat.“ Der indigene Süden Chiles ist aber noch immer Notstandsgebiet.

Borics Vorgänger, Sebastian Pinera, hat den Ausnahmezustand in vier südchilenische Provinzen erst vor kurzem noch einmal verlängert. Er ist seit Oktober 2021 in Kraft. „Boric startet also mit einer Hypothek ins Amt, die ihm bei den Mapuche sicher keinen Vertrauensvorschuss einbringt. In den Notstandsgebieten kommen immer wieder Mapuche unter ungeklärten Umständen zu Tode“, erinnert Bangert.

Umgekehrt gibt es allerdings auch Brandanschläge auf in der Region tätige Unternehmen und auf christliche Kirchen. Boric will versuchen, die angespannte Lage durch einen Dialog aufzubrechen und einen Neuanfang im Verhältnis Staat und Indigene zu erreichen. Die Mapuche kritisieren die industrielle Forstwirtschaft, weil auf deren Plantagen schnell wachsende Baumarten wie Eukalyptus viel Wasser verbrauchten und die Böden auslaugten. Die Arbeiter in der Forstwirtschaft wiederum fürchten um ihre Arbeitsplätze.

Wenige Tage vor seinem Amtsantritt hatte die chilenische Kirche dem künftigen Präsidenten des südamerikanischen Landes ihre Unterstützung zugesagt. Der Linkspolitiker lud Vertreter verschiedener Religionen zu einem Treffen ein, an dem laut Angaben der Chilenischen Bischofskonferenz deren Vorsitzender, Kardinal Celestino Aos, teilnahm.

Boric könne sich auf eine kritische und konstruktive Zusammenarbeit der katholischen Kirche verlassen, um ein gerechteres Chile aufzubauen, in dem Wahrheit herrsche, Ehrlichkeit und Dialog Vorrang vor Gewalt hätten, sagte Aos den Angaben zufolge und unterstrich die Bedeutung des sozialen Friedens. Boric betonte die Bedeutung der verschiedenen Kirchen und deren soziales Engagement an vielen Orten, die für den Staat schwierig zu erreichen seien.

Im Wahlkampf hatte Aos zum Aufbau einer gerechteren, solidarischen Gesellschaft sowie zu einem Umdenken in der Umweltpolitik aufgerufen. „Die Bedeutung der Ökologie ist heute unbestreitbar. Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend darauf reagieren“, so der Geistliche.

Boric folgt auf den konservativen Amtsinhaber Pinera, der aufgrund einer Amtszeitbegrenzung in der Verfassung nicht wieder antreten durfte. Seine Zustimmungswerte waren zuletzt gering. Boric genießt dagegen vor allem bei der jungen chilenischen Bevölkerung große Zustimmung.

Mit der Wahl der indigenen Politikerin Elisa Loncon hatte der Verfassungskonvent bereits im vergangenen Jahr die Arbeit aufgenommen. Die Versammlung besteht aus 155 gewählten Vertreterinnen und Vertretern, die eine neue Verfassung für Chile erarbeiten sollen. Diese soll dann die noch in Teilen aus den Zeiten der Militärdiktatur (1973-1990) stammende Verfassung ablösen. Damit wäre der Politikwechsel in Chile komplett.

Von Tobias Käufer (KNA)

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