Trügerische Ruhe in Kasachstan
Nur-Sultan ‐ Die Lage in Kasachstan bleibt unübersichtlich. Während Machthaber Tokajew auf Unterdrückung setzt, reagieren Religionsgemeinschaften unterschiedlich auf die Unruhen.
Aktualisiert: 11.01.2022
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In Kasachstan hat der Befehl von Machthaber Kassym-Schomart Tokajew, „blind in die Massen zu schießen“, in der zweiten Woche zum Abflauen der Unruhen geführt. Vor allem in der alten und weiter heimlichen Hauptstadt Almaty trifft die Behauptung des Regimes und seiner russischen Verbündeten von einer „weitgehend“ beruhigten Lage zu.
Die besteht allerdings darin, dass sich die Straßen von Demonstranten geleert, doch dafür die Gefängnisse gefüllt haben. Die noch immer nicht überschaubare Zahl an Toten und Verletzten verwandelt die spontane Wut der Bevölkerung über explodierende Teuerung für die Armen und ausufernde Korruptionsgewinne in der herrschenden Schicht in feste Entschlossenheit, bis zum Sturz der Diktatur weiterzukämpfen.
Bislang herrschten in der zweitgrößten der einstigen Sowjetrepubliken nach Russland vergleichsweise stabile Verhältnisse. Ein Aufstand der Ölarbeiter von Schangaösen und seine blutige Niederschlagung 2011 wirken aus heutiger Sicht aber wie eine Vorwegnahme der jüngsten Proteste. Die Motive waren damals dieselben wie heute: Obwohl das Feld von Ösen 70 Prozent des Erdöls in Kasachstan lieferte, musste die Belegschaft unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen zu Hungerlöhnen schuften, während die Petro-Oligarchen mit Ölprinzessin Darigha Nasarbajewa, einer Tochter des damaligen Präsidenten, im Geld schwammen.
Nursultan Nasarbajew sicherte dem postkommunistischen Ausbeutungssystem von 1990 bis 2019 Stabilität. Auch nach seinem Rücktritt als Präsident blieb er Vorsitzender der Einheitspartei „Nur Otan“ („Lichtvolles Vaterland“) und gab die eigentliche Macht als Chef des Sicherheitsrates erst jüngst zum Jahreswechsel auf. Sofort zeigte sich, dass sein Nachfolger Tokajew der autoritären und sozial repressiven Führung Kasachstans nicht gewachsen ist. Der kasachische Exilpolitiker Muchtar Abljazow hält ihn für unfähiger, doch auch bösartiger als Nasarbajew, dem er eine gewisse „Gemütlichkeit“ bescheinigt. Tokajew hingegen habe mit seiner überzogenen Reaktion auf die Proteste diese erst zum Überkochen gebracht.
Abljazow weist auch auf einen indirekten, aber maßgeblichen Beitrag der Deutsch-Kasachischen Universität von Almaty auf eine kritischere, weniger obrigkeitsgläubige politische Meinungsbildung hin. Aus ihrer Sozialwissenschaftlichen Fakultät seien die führenden Köpfe der neuen Demokratiebewegung hervorgegangen.
Auch die volkstumsnahe Türkei spielt in Kasachstan heute eine wichtige Rolle. Sie war schon mit ihrer Einführung der lateinischen anstelle der arabischen Schrift von 1928 ein Vorbild, dem Almaty im Jahr darauf folgte. Nach der Wende trat Kasachstan dem „Türkischen Rat“ und der Kulturgemeinschaft Türksoy bei. Yasi – heute Türkistan – eine der ältesten Städte des Landes, wurde zur „spirituellen Hauptstadt der türkischen Welt“ erklärt.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan unterstützte in Kasachstan den Kurs einer Re-Islamisierung, schlägt sich aber im aktuellen Konflikt als einziger außerhalb des Moskauer Einflussbereichs auf die Seite der Führungsclique. Zu groß ist die Ähnlichkeit seines eigenen Gewinnschöpfungssystems im türkischen Finanz-, Bau- und Rüstungswesen mit der jetzt von den Kasachen infrage gestellten Korruption. Erdogan fürchtet, dass ein Umsturz bei den „volkstürkischen Brüdern“ in Kasachstan auf die Türkei ausgreifen könnte.
Obwohl 70 Prozent der Bevölkerung Muslime sind, spielten islamische Kräfte bei diesem Volksaufstand bislang kaum eine Rolle. Und die Christen? Die orthodoxe Kirche in Kasachstan verurteilte die Unruhen und stellte sich hinter den Kurs von Präsident Tokajew. „Unser Land war einem heimtückischen Überfall von Extremisten ausgesetzt“, so der oberste Geistliche, Metropolit Alexander von Astana (Nur-Sultan). Die Angreifer hätten den Menschen auf grausamste Weise ihren bösartigen Willen aufzwingen und die staatliche Souveränität zerstören wollen.
Ein anderes Bild biete sich bei den Katholiken sowie den Protestanten und Freikirchlern, die allerdings nur einen unteren einstelligen Prozentsatz am Bevölkerungsanteil haben. Sie wollen offenbar ihre schon gelebte, vom kirchlichen Osteuropa-Hilfswerk Renovabis unterstützte Geschwisterlichkeit und Hilfsbereitschaft zu Andersgläubigen und Ungläubigen (rund 18 Prozent) fortsetzen.
„In nächster Zeit haben wir eine noch schlimmere Repression als vor diesem Aufbegehren zu erwarten“, befürchtet ein Dekan des katholischen Erzbistums in Astana. „Wenn unsere kleinen Gemeinden, oft nur Hauskirchen, zu tätigen Zentren der Nächstenliebe werden, erfüllen wir nicht nur die Bitte von Papst Franziskus nach sozialer Harmonie.“
Kasachstan war zur Zeit der Mission durch frühe syrische Christen und dann noch einmal mit im Hochmittelalter durch die Franziskaner ein Hoffnungsgebiet für die Kirche. Daran will der Dekan anknüpfen: „Diese Hoffnung zu leben und den kasachischen Brüdern und Schwestern in diesen Zeiten materieller und geistlicher Not mitzuteilen, ist jetzt unsere unausweichliche Aufgabe.“
Von Heinz Gstrein (KNA)
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