Das Hausmädchen Mirtes hatte ausnahmsweise den fünfjährigen Miguel mit zur Arbeit in ein Luxus-Hochhaus in Recife genommen. Als sie das Schoßhündchen der weißen Arbeitgeberin ausführte, vertraute sie Miguel der Dame an. Doch der wurden gerade die Nägel gemacht, weshalb sie den Jungen alleine im Aufzug spielen ließ und sogar auf den Knopf drückte, um ihn ein paar Stockwerke nach oben zu schicken. Wenig später stürzte der unbeaufsichtigte Junge aus 35 Metern in den Tod.
Miguels Fall schockierte Brasilien, weil er der Gesellschaft 132 Jahre nach Ende der Sklaverei den Spiegel vorhält. Damit die hellhäutige Arbeitgeberin ihre Corona-Quarantäne angenehm verbringen konnte, musste die dunkelhäutige Mirtes trotz Ausgangsbeschränkungen zur Arbeit. Dass der Hausherr, der Bürgermeister einer Kleinstadt, ihren Monatslohn von weniger als 200 Euro illegal über die dortige Stadtverwaltung abrechnen ließ, wusste Mirtes nicht.
Am Wochenende war Miguels Gesicht auf Plakaten bei den in einigen Großstädten abgehaltenen Protesten gegen Rassismus zu sehen. Gemeinsam mit den Gesichtern der „klassischen“ Opfer des alltäglichen Rassismus und der Polizeigewalt. Wie etwa dem 14-jährigen Joao Pedro, der in einer Favela in Rio de Janeiro von der Polizei mit mehreren Kugeln getötet wurde, als er daheim spielte. Warum das Haus gestürmt wurde und wer schoss, ist unklar. Über 70 Einschusslöcher wurden an den Wänden gezählt.
Anders als in den USA, wo der Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis zu landesweiten Protesten der „Black Lives Matter“-Bewegung führte, reagiert die schwarze Bevölkerung Brasiliens meist mit Hilflosigkeit und Angst auf Polizeigewalt. Denn die „Ordnungshüter“ erschießen zehnmal so viele Menschen wie ihre amerikanischen Kollegen. Fast 6.000 Personen kamen 2019 durch Polizeigewalt zu Tode, die meisten dunkelhäutige Jugendliche.
Brasilien hat keine traditionelle schwarze Bürgerbewegung. Wozu auch, bestand hier doch, anders als in den USA, zwischen weißen Herren und schwarzen Sklaven stets ein herzliches Verhältnis. Zumindest wenn man dem herrschenden Diskurs glaubt, der von dem Soziologen Gilberto Freyre (1900-1987) begründet wurde. Der Mythos der brasilianischen „Rassendemokratie“ postuliert ein harmonisches Zusammenleben der Weißen, Schwarzen und Indigenen, die durch Vermischung einen besseren Menschen hervorbringen.
Die üblichen Vergewaltigungen der Sklavinnen durch ihre weißen Herren deutete Freyre dabei zu freiwilligen Liebesbekundungen um, die blutig niedergeschlagenen Sklavenrevolten wurden gar aus der offiziellen Geschichtsschreibung ausgeblendet. Noch heute hört man von weißen Brasilianern die These, dass sich die Sklaven freiwillig unterordneten – und erwartet genau das weiterhin von ihren Nachfahren.