Als Reet Aus bei Beximco vorfährt, öffnet sich das große Tor in der roten Ziegelsteinmauer, die das weitläufige Gelände umgibt. Dahinter erhält die junge Estin Gewissheit. Die „Zara“-Jeans, mit der sie um die Welt reiste, ist bei Beximco genäht worden. Neben „Zara“ lassen hier unter anderem H&M, C&A, Tommy Hilfiger und Calvin Klein produzieren. Mehr als 240 Millionen Kleidungsstücke verlassen die Fabrik im Jahr. Da Stoff so billig ist, kaufen die Firmen großzügig ein. Dass bis zu 18 Prozent Abfall übrig bleiben, ist für die großen Handelsketten kein Problem. Wohl aber für Reet Aus. Die Modedesignerin möchte Überproduktion verhindern und neues Bewusstsein schaffen für den Wert der Kleidung. „Ich habe entschieden, nichts Neues mehr zu kaufen, sondern textilen Abfall für meine Kollektionen zu nutzen“, erklärt sie. „Upcycling“ heißt der Vorschlag, mit dem sie den Geschäftsführer von Beximco konfrontiert. Und überraschend auf offene Ohren stößt.
Sie möchte eigentlich nur eine Erlaubnis, um in der Fabrik fotografieren zu dürfen, doch das Management zeigt sich fasziniert von der Idee, aus Textilabfällen modische Sportkleidung in großer Stückzahl herzustellen – parallel zur laufenden Produktion. Dass das möglich ist, beweist die 43-Jährige, als sie kurzfristig für ein Sängerfestival in ihrer Heimat 23.000 T-Shirts aus Stoffabfällen nähen lässt. Ein Großauftrag, der im Vergleich zur herkömmlichen Fertigung bis zu 80 Prozent Wasser und Energie spart.
In Zeiten, in denen sich Modefirmen zunehmend drängenden Fragen nach den sozialen und ökologischen Folgen ihrer Produktion stellen müssen, bietet „Upcycling“ eine Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen. Einfach ist die Überzeugungsarbeit trotzdem nicht. Reet Aus jedoch bleibt beharrlich und führt Gespräche mit verschiedenen Handelsketten. Sie sagt: „Nur wenn die großen Marken einsteigen, wird sich das System ändern. Ansonsten bleibt Upcycling-Mode ein Nischenprodukt.“
Für ihre Marken „Reet Aus“ und „Up-shirt“ hat sie im vergangenen Jahr in Indien und Bangladesch 10.000 Kleidungsstücke aus Textilresten fertigen lassen. Sie werden über das Internet und in ausgewählten Läden – auch in Deutschland – verkauft. Mit der eigenen Kollektion in kleiner Stückzahl geht sie voran und hofft, dass sie bald weltweit agierende Modeunternehmen für ihren Ansatz gewinnen kann.
„Wir hatten die Chance, mit C&A zu sprechen. Im Moment sind sie ziemlich an unserer Idee interessiert. Wir müssen sehen, wie es jetzt weitergeht.“ Reet Aus nimmt auch die Kunden in die Pflicht: „Sie entscheiden durch ihren Einkauf, wie Kleidung zukünftig hergestellt wird.“ Bedeutsame Veränderungen lassen sich nicht über Nacht herbeiführen. Sie brauchen Pioniere. Es gibt einige Initiativen, die die Kleiderindustrie revolutionieren möchten. Reet Aus trägt ihren Teil dazu bei.
Von Eva-Maria Werner
Dieser Text erschien in der Januarausgabe 2018 des Missionsmagazins „kontinente“.
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