Mitten im Sterben stehen
Senesie war ein lebhafter Junge, und nun liegt er halbtot vor mir im Freien. Die Medikamente ermöglichen ihm nur noch ein schmerzfreies Sterben. Das jedoch scheint trügerisch. Denn er wie auch ich leiden unvorstellbares Leid. Nur noch schwer kann er sich verständigen. Zum Gehen ist er zu schwach. Ich kann ihm nicht die Hand halten, ihm nahe sein. Wie gern würde ich ihn in meine Arme nehmen!
Aktualisiert: 12.07.2015
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Senesie war ein lebhafter Junge, und nun liegt er halbtot vor mir im Freien. Die Medikamente ermöglichen ihm nur noch ein schmerzfreies Sterben. Das jedoch scheint trügerisch. Denn er wie auch ich leiden unvorstellbares Leid. Nur noch schwer kann er sich verständigen. Zum Gehen ist er zu schwach. Ich kann ihm nicht die Hand halten, ihm nahe sein. Wie gern würde ich ihn in meine Arme nehmen!
Senesie hat nur noch wenige Stunden zum Leben, Zeit zum Sterben. Zwischen uns gibt es eine Distanz von fünf Metern. Er ist infiziert, infiziert mit dem Ebolavirus. Kontakt gilt es zu meiden. Er selbst hat seine Eltern beim Sterben begleitet. Er war ihnen nahe, hatte Körperkontakt und bezahlt nun mit seinem Leben. Seine und auch meine Zeit zum Sterben sind angebrochen.
Eine Traumreise
Ich hocke in der prallen Mittagssonne vor Senesie in Lokomasana, einem kleinen und überschaubaren Dorf im Westen Sierra Leones. Im Wissen, dass er im Übergang vom irdischen zum himmlischen Leben ist, möchte ich diese Zeit bei ihm sein. Was soll ich sagen, tun, machen? Kann ich mit ihm über den Tod sprechen? Ich erzähle ihm von einer Wanderung auf einer wunderschönen Straße, für die Berge und Täler eingeebnet und Wüsten zu paradiesischen Landschaften mit üppigen Wasserläufen und Schatten spendenden Bäumen verwandelt werden. Er lächelt. Ob er die spannende Erzählung aus dem Deuterojesaja kennt? Ich spüre, dass er nun Wärme empfängt und die Einsamkeit weicht. Ich gehe in meiner Traumreise weiter. Das Ziel der Reise ist Jerusalem. Ob er eine Stärkung für die Reise möchte, frage ich ihn zwischendurch. Er bejaht, und ich rühre ihm wieder ein Wassergetränk mit Mineralien und Vitaminen an.
Die Traumreise hat ihn ermüdet. Sichtbar zufrieden geht er die Wanderung in Gedanken weiter. Was ihm alles auf dem Weg begegne, will ich wissen. Und mit schwacher Stimme und mit geschlossenen Augen zählt er eine Reihe von Menschen auf: seine Mutter und sein Vater, seine Brüder und seine Schwestern, seine Freunde und Lehrer. Es scheint ein Rückblick in Dankbarkeit zu sein. Meine eigenen Gefühle spielen verrückt. Immer die quälende Frage: Warum dieses unvorstellbare Leid für diesen Jungen, den ich seit Jahren kenne? Und dann der Versuch, all diese Fragen zu unterdrücken, die aber immer wieder hochkommen. Ich kann es nicht akzeptieren. Ich möchte alles im Griff haben. Perfektes Handeln. Und wieder, was kann ich denn tun, machen? Und ich bemerke meine Grenzen. Senesie erzählt von seiner jüngeren Schwester. Gemeinsam sind sie jeden Morgen zur Schule gegangen. Immer wieder stockt er, räuspert sich. Die Schwester starb letzte Woche. Er schaufelte das Grab und stellte Blumen an die Stätte.

Die „Übung vom guten Tod“
Ich spüre, dass die Zeit des Sterbens von Senesie direkt und unmittelbar auch die Zeit meines eigenen Sterbens umfasst. Ich stehe mittendrin im Sterben. In meinem Denken vermeide ich theologische Floskeln, ja, eine kindische Himmelskomik. Schlagartig bekommt die Aussage aus dem Buch Jesus Sirach eine neue Relevanz für mein Leben: Was du auch tust, denke an dein Ende (Sir 7,36). In unserer Ordensgemeinschaft der Salesianer wird die „Übung vom guten Tod“ gepflegt, zu der immer wieder der Gründer Don Bosco mahnte. Eine gute Gewissenserforschung. Ein wahrhaftiges Leben. Ein Leben in Gebet und Nächstenliebe. Was macht eine gute Zeit zum Sterben aus? Wann beginnt sie? Wie wird meine unmittelbare Zeit des Sterbens? Ich merke, dass ich von meinem eigenen Tod umfangen bin. Meine Zeit ist begrenzt, und mit hoher Geschwindigkeit rase ich auf mein eigenes Sterben zu. Ich formuliere gute Vorsätze, da ich nun direkt dem Tod gegenüberstehe. Ob ich mich daran halte?
Senesie zittert am ganzen Körper. Das Fieber steigt. Immer wieder erbricht er. Er klagt über Gliederschmerzen. Der Kreuzweg Jesu wird mehr und mehr erfahrbar. 2015 in Sierra Leone. Es ist drei Uhr Nachmittag. Es sind die vielen Ebolainfizierten, die den historischen Kreuzweg für mich aktualisieren. Im Hier und Jetzt. Und welche Rolle nehme ich am Weg ein? Reiche ich das Schweißtuch wie Veronika? Helfe ich, das Kreuz zu tragen wie Simeon? Oder mache ich mich aus dem Staub wie die Jünger? Kann ich dem auf den Tod zugehenden Menschen überhaupt nahe sein? Was verbindet uns? Die Nähe, das Mitgefühl, die Liebe? Wie gerne würde ich Senesies Leid teilen. Er ist so jung und hat das Leben noch vor sich, obwohl sein Leben recht bald ein Ende haben wird. Was denkt er? Und ich frage ihn, was er haben möchte. Ich hoffe, dass ich etwas machen kann. Er ist zu schwach zum Antworten, und ich quäle ihn nicht mehr mit meinen Fragen, die ihn scheinbar Kraft kosten. Ich gebe Senesie fiebersenkende Medikamente, und er scheint wieder ruhiger zu werden.
Schrei nach Hilfe
Voller Zorn frage ich mich, wo die internationalen Hilfen sind? Warum kann Senesie nicht behandelt werden? Vor einer Woche habe ich die neu eingerichtete Hotline der Weltgesundheitsorganisation angerufen. Auch wieder eine Verzweiflungstat. Nur Willenserklärungen. Keine Hilfe. Ich spüre Wut in meinem Bauch. Es fehlen Krankentransporte, Labore, Behandlungszentren, Personal und Material. Ich scheine wieder vor dem Tod zu fliehen. Ich will es nicht wahrhaben, dass das Leben des jungen Menschen, meines jungen Freundes, zu Ende geht. Ich kann und will nicht akzeptieren, dass Senesie dieses Leid durchleben muss. Und dann merke ich schnell, dass ich die Person bin, die nun gefragt, gefordert ist. Die Zeit zum Sterben von Senesie soll gelingen. Ich beobachte Senesie und schaue dabei die leerstehenden Häuser im Dorf an. Er ist der Letzte im Dorf. Die Überlebenden sind geflohen. Die Hitze macht mir zu schaffen. Ich lasse meinen Kopf hängen. Die Sonne geht unter.
Wo ist Gott? Die Gottesferne ist greifbar, und doch kommt mir ins Bewusstsein, dass nun nur noch Gott allein helfen kann. Und dann wieder fühle ich Zorn und Wut auf Gott. Fluchpsalmen gehen mir durch den Kopf. Eine Ambivalenz, die ich in den letzten Wochen oft erlebt habe. Ja, nur Gott führt in einen neuen himmlischen Aufbruch. Der Prophet verkündet: „Deine Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf.“ (Jes 26,19). Eine warme, angenehme Windbrise umfängt mich. Und ich beginne zu beten, laut, sodass Senesie in Gedanken mitbeten kann. Ich versuche, sachlich zu bleiben. Meine Bodenständigkeit soll nicht abhanden kommen. Das Kontrollierbare gibt Sicherheit. Und schließlich singe ich, dass die Engel ihn begleiten mögen. Und ich spüre mehr und mehr, wie emotional ergriffen ich bin und weine. Nicht vor Schmerz und Trauer. Vielmehr aus Freude, dass der Himmel sich über uns geöffnet hat und Senesie in das himmlische Jerusalem einzieht. Millisekunden des Glücks. Ein Kairos, der den Himmel auf Erden mit menschlichen Sinnen erfahrbar macht.
Senesie ist tot. Ich lege eine Decke über ihn. Erst spät in der Nacht gehe ich zu meinem Auto und schlafe einige Stunden. Und es sollte so sein, dass sein Leichnam erst nach drei Tagen von den staatlichen Stellen abgeholt wird. Er wird ohne Trauerzeremonie mit vielen anderen Ebolatoten in einem Massengrab beerdigt. Senesie wurde 17 Jahre alt und hat wie seine gesamte Familie die Ebolapandemie nicht überlebt. 450 Kinder und Jugendliche in Sierra Leone ereilte das gleiche Schicksal wie Senesie.
Von Bruder Lothar Wagner SDB
Quelle: Missio konkret , Ausgabe 1/2015. Mit freundlichem Dank für die Genehmigung.