Schrei nach Hilfe
Voller Zorn frage ich mich, wo die internationalen Hilfen sind? Warum kann Senesie nicht behandelt werden? Vor einer Woche habe ich die neu eingerichtete Hotline der Weltgesundheitsorganisation angerufen. Auch wieder eine Verzweiflungstat. Nur Willenserklärungen. Keine Hilfe. Ich spüre Wut in meinem Bauch. Es fehlen Krankentransporte, Labore, Behandlungszentren, Personal und Material. Ich scheine wieder vor dem Tod zu fliehen. Ich will es nicht wahrhaben, dass das Leben des jungen Menschen, meines jungen Freundes, zu Ende geht. Ich kann und will nicht akzeptieren, dass Senesie dieses Leid durchleben muss. Und dann merke ich schnell, dass ich die Person bin, die nun gefragt, gefordert ist. Die Zeit zum Sterben von Senesie soll gelingen. Ich beobachte Senesie und schaue dabei die leerstehenden Häuser im Dorf an. Er ist der Letzte im Dorf. Die Überlebenden sind geflohen. Die Hitze macht mir zu schaffen. Ich lasse meinen Kopf hängen. Die Sonne geht unter.
Wo ist Gott? Die Gottesferne ist greifbar, und doch kommt mir ins Bewusstsein, dass nun nur noch Gott allein helfen kann. Und dann wieder fühle ich Zorn und Wut auf Gott. Fluchpsalmen gehen mir durch den Kopf. Eine Ambivalenz, die ich in den letzten Wochen oft erlebt habe. Ja, nur Gott führt in einen neuen himmlischen Aufbruch. Der Prophet verkündet: „Deine Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf.“ (Jes 26,19). Eine warme, angenehme Windbrise umfängt mich. Und ich beginne zu beten, laut, sodass Senesie in Gedanken mitbeten kann. Ich versuche, sachlich zu bleiben. Meine Bodenständigkeit soll nicht abhanden kommen. Das Kontrollierbare gibt Sicherheit. Und schließlich singe ich, dass die Engel ihn begleiten mögen. Und ich spüre mehr und mehr, wie emotional ergriffen ich bin und weine. Nicht vor Schmerz und Trauer. Vielmehr aus Freude, dass der Himmel sich über uns geöffnet hat und Senesie in das himmlische Jerusalem einzieht. Millisekunden des Glücks. Ein Kairos, der den Himmel auf Erden mit menschlichen Sinnen erfahrbar macht.
Senesie ist tot. Ich lege eine Decke über ihn. Erst spät in der Nacht gehe ich zu meinem Auto und schlafe einige Stunden. Und es sollte so sein, dass sein Leichnam erst nach drei Tagen von den staatlichen Stellen abgeholt wird. Er wird ohne Trauerzeremonie mit vielen anderen Ebolatoten in einem Massengrab beerdigt. Senesie wurde 17 Jahre alt und hat wie seine gesamte Familie die Ebolapandemie nicht überlebt. 450 Kinder und Jugendliche in Sierra Leone ereilte das gleiche Schicksal wie Senesie.
Von Bruder Lothar Wagner SDB
Quelle:
Missio konkret
, Ausgabe 1/2015. Mit freundlichem Dank für die Genehmigung.