In einem Plattenbau im Zentrum lebt die 30-jährige Julia mit ihrer Familie. Sie stammt aus dem Ort Horliwka nahe Donezk, mitten im umkämpften Gebiet. Im Juli sei ihr Zuhause über Nacht zwischen die Fronten geraten, erzählt sie. Nach furchtbaren Stunden im Keller packten Julia und ihr Mann die Koffer und flohen mit den beiden Kindern Richtung Westen. „Wir wissen nicht, wer geschossen hat, wir sind einfach nur weg“, erzählt sie mit leiser Stimme.
Mit dem Auto schafften sie es nach Slowjansk. Der elf Monate alte Kyrill versteht noch nicht, was geschehen ist, doch der neunjährige Maxim leidet unter Alpträumen. Deshalb hat die Familie die Hilfe eines Psychologen in Anspruch genommen. Maxim ist kein Einzelfall. Bis zu 80 Prozent der Kinder aus den Kriegsgebieten seien schwer traumatisiert, erzählt der Präsident der ukrainischen Caritas, Andrij Waskowycz. Mit den Folgen dieses Krieges werde die Ukraine noch lange zu kämpfen haben.
Über eine Millionen Menschen auf der Flucht
Rund 1,3 Millionen Menschen sind bislang vor dem Krieg in der Ostukraine geflohen. Ein Drittel, rund 400.000, sind Kinder. Mehr als 5.000 Todesopfer haben die Auseinandersetzungen laut UN-Angaben gefordert.
Ohne Lebensmittel- und Kleiderspenden könnten sie nicht überleben, erzählt Julia. Arbeit zu finden sei unmöglich. Gerne würden sie zurückgehen, doch das sei unmöglich. „Wir telefonieren fast täglich mit unseren Verwandten und Freunden vor Ort. Es wird ständig geschossen. Alle wollen weg. Doch wegen der Kämpfe können sie nicht.“ An die Zukunft will die junge Mutter nicht denken. Trotzdem: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Diesen Spruch gibt es auch im Russischen. Besonders der Bevölkerung in Slowjansk ist Julia dankbar. „Die Menschen hier haben selbst viel mitgemacht. Dennoch helfen sie uns.“
Auch Caritaspräsident Waskowycz betont die große Solidarität der Ukrainer untereinander. Allein in Charkiw, der zweitgrößten Stadt in der Ukraine, lebten derzeit rund 120.000 Binnenflüchtlinge – bei 1,4 Millionen Einwohnern. „Sie sind nicht sichtbar, es ist eine zweite Stadt in der Stadt entstanden“, sagt Waskowycz. Allerdings stoße die Gesellschaft an ihre Grenzen. Hilfe sei notwendig, doch die Staatskasse sei leer.
Von Georg Pulling