Deselaers: Die direkte biografische Betroffenheit nimmt ab. Was der Urgroßvater gemacht und erlebt hat, prägt einen Jugendlichen normalerweise heute wenig. Aber Oświęcim-Auschwitz ist zum internationalen Lernort für den Frieden geworden, in dem auch die heutigen Probleme des Friedens Thema sind. Und das ist gut so. Die Vergangenheit können wir nicht ändern. Verantwortlich sind wir für die Zukunft.
Frage: Im Zentrum für Dialog und Gebet werden Geschichte, religiöse Haltungen und Grundsätze betrachtet: Was ist Ihr Beitrag für ein lebendiges Miteinander aller Menschen, die sich auf Auschwitz einlassen?
Deselaers: Das Erste ist immer, die Geschichte ernst zu nehmen und genauer kennenzulernen, was passiert ist. Das allein ist schon nicht einfach, aber es ist grundlegende Voraussetzung, um uns und die zu uns gehörenden Wunden gegenseitig zu verstehen. Nur mit der historischen Wahrheit ist Dialog möglich. Und vielleicht nur mit dem Glauben an Gott, der uns liebt, ist eine Geduld möglich, die die Hoffnung nicht verliert. Deshalb helfen wir beim Organisieren der Besichtigungen, der Zeitzeugenbegegnungen, der Begegnungen verschiedener Nationen und Glaubensrichtungen, dem Gebet. Unsere Hilfe ist vor allem begleitend: Wir vermitteln bei Kontakten, antworten auf Fragen, wenn sie gestellt werden und versuchen, einen Raum zu schaffen, in dem sich alle Menschen wohl und geachtet fühlen. Unser christliches „Glaubenszeugnis“ ist vor allem die Geduld der Liebe, die nicht die Hoffnung aufgibt, dass das letzte Wort über Auschwitz nicht die Macht des Bösen, sondern die Macht des Guten hat.
In diesem Sinne hoffe ich, dass Auschwitz zu einem Besinnungsort, Gebetsort und zu einer Schule des Friedens für ganz Europa und darüber hinaus wird. In den letzten Jahren sind hier viele Friedensinitiativen entstanden. Auf den Gedenktafeln des Mahnmals in Birkenau steht geschrieben: Dieser Ort sei allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit.
Wer aus Verzweiflung schreit, der schreit um Hilfe, weil er sich verlassen und in Todesgefahr weiß. Nie wieder soll, wer in Verzweiflung um Hilfe schreit, alleine gelassen bleiben. Das ist die Mahnung. Deshalb hoffe ich, dass wir auch sagen können: Dieser Ort sei allzeit eine Schule der Solidarität und Hoffnung für die Menschheit.