
„Gemeinsame Verantwortung“
Mit der Dialog-Initiative „Zukunftscharta“ lädt das Entwicklungsministerium Kirche, Zivilgesellschaft und engagierte Bürger dazu ein, ihre Vorstellungen, Wünsche und Forderungen für eine nachhaltige Entwicklungsagenda nach dem Jahr 2015 auszutauschen. Denn dann laufen die Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen aus. Im Interview mit dem Internetportal Weltkirche spricht Misereor-Chef Pirmin Spiegel über die Chancen der Zukunftscharta und erklärt, wie sich Misereor in den Dialog-Prozess mit einbringt.
Aktualisiert: 12.07.2015
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Mit der Dialog-Initiative „Zukunftscharta“ lädt das Entwicklungsministerium Kirche, Zivilgesellschaft und engagierte Bürger dazu ein, ihre Vorstellungen, Wünsche und Forderungen für eine nachhaltige Entwicklungsagenda nach dem Jahr 2015 auszutauschen. Denn dann laufen die Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen aus. Im Interview mit dem Internetportal Weltkirche spricht Misereor-Chef Pirmin Spiegel über die Chancen der Zukunftscharta und erklärt, wie sich Misereor in den Dialog-Prozess mit einbringt.
Frage: Monsignore Spiegel, wie beteiligt sich Misereor an der Zukunftscharta?
Spiegel: Misereor nimmt auf verschiedene Weisen teil. Zum einen haben wir gemeinsam mit Brot für die Welt ein Impulspapier zur Zukunftscharta formuliert. Zum anderen wirken wir über einen persönlichen und schriftlichen Austausch mit Bundesminister Gerd Müller an der Initiative mit. Auch im Koordinierungskreis der Zukunftscharta sind Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche präsent.
Frage: In Ihrem Impulspapier fordern Sie eine sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft. Was ist darunter zu verstehen?
Spiegel: Bei der großen Transformation sprechen wir von einem Nachhaltigkeitsviereck mit verschiedenen Dimensionen, in denen Veränderungen stattfinden müssen: in der ökologischen, der sozialen, der ökonomischen und der kulturellen Dimension. Dieser gesamte Wandel muss auf dem Fundament der Menschenrechte aufbauen.
Frage: Diese vier Handlungsfelder sind sehr umfassend. Wo kann jeder Einzelne im Kleinen anfangen, um die Transformation voranzubringen?
Spiegel: Im Kleinen gedacht geht es darum, seinen persönlichen Lebensstil zu reflektieren und die Frage zu stellen „Wie wollen wir leben, damit alle Menschen in Würde leben können?“. Auf Gruppenebene wird darauf hingearbeitet, sich national und international zu vernetzen. Auf weltpolitischer Ebene schließlich müssen die Rahmenbedingungen für eine Gesellschaft geschaffen werden, in der gutes Leben für alle möglich ist – und zwar im gemeinsamen Prozess mit denjenigen, die aktuell am Rand stehen und von der Gesellschaft ausgeschlossen sind.

Frage: Die Bundesregierung ist im Juni 2015 Gastgeber des jährlichen G7-Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs. Inwieweit kann und sollte Deutschland hier die Weichen für eine sozial-ökologische Transformation stellen?
Spiegel: Die Bundesrepublik könnte den verschiedenen Initiativen der G7 zur Hungerbekämpfung deutlich mehr Richtung geben hin zu einer verstärkten Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft. Darüber hinaus könnte sich Deutschland dafür einsetzen, dass Menschenrechtsklauseln in internationalen Handelsverträgen zum Standard werden. Auch die Energiewende sollte ein Thema sein. Ein Viertel der Energiegewinnung in Deutschland stammt inzwischen aus erneuerbaren Energien. Diese Entwicklung sollte mit Mut weitergeführt werden.
Das Jahr 2015 ist ohnehin ein wichtiges Jahr für die Zukunft unseres Planeten. Die Millenniumsziele laufen aus und müssen in eine neue Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsagenda überführt werden. Auf der 3. Internationalen Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung wird über die Weltfinanzen geredet. Und auf der UN-Klimakonferenz in Paris wird es um die Frage gehen, wie die Staatengemeinschaft den Klimawandel als Herausforderung annimmt.
Frage: 2015 werden also viele Weichen gestellt. Haben Sie Bedenken, dass sich die verschiedenen Vorhaben gegenseitig im Weg stehen könnten, zum Beispiel wenn es um die Finanzierung der Klimaziele einerseits und der Post-2015-Agenda andererseits geht?
Spiegel: Meine Bedenken richten sich zurzeit eher auf die großen Konflikt- und Brandherde im Nahen Osten, in Teilen Afrikas und an der Grenze zwischen Mexiko und dem Süden der USA. Verständlicherweise bestimmen diese Krisen die Politik und die Medien so stark, dass andere grundlegende Diskussionen, wie diejenige um die Post-2015-Agenda, dahinter zurücktreten.
Mit Blick auf Ihre Frage kann ich jedoch sagen, dass wir aus den Fehlern der Millenniumsziele gelernt haben. Diese waren zu einseitig aus westlicher Perspektive formuliert. Die zukünftige Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsagenda muss auf Weltebene entschieden werden – unter Einbeziehung aller Akteure und in gemeinsamer Verantwortung. Die verschiedenen Dimensionen dürfen dabei nicht parallel laufen, sondern müssen sich gegenseitig ergänzen und auf dem gemeinsamen Fundament der Menschenrechte aufgebaut sein. Dann habe ich keine Bedenken, dass hier ein Konkurrenzkampf entsteht.
„Die zukünftige Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsagenda muss auf Weltebene entschieden werden.“
Frage: Am 2. und 3. September findet das fünfte und letzte Zukunftscharta-Forum zum Thema „Globale Partnerschaften“ statt. Wie sieht für Sie eine zukunftweisende globale Partnerschaft aus?
Spiegel: Partnerschaft ist ein zentrales Prinzip unserer Entwicklungszusammenarbeit, da Misereor die Arbeit von einheimischen Partnerorganisationen in den Ländern des globalen Südens unterstützt. Natürlich stellt sich immer die Frage der Asymmetrie, wenn eine Seite Geld gibt und die andere Seite empfängt. Daher versuchen wir, einander zuzuhören und voneinander zu lernen. Wir müssen also nicht unser Wissen als Lösungen in die Länder des globalen Südens exportieren – zumal sich diese auch nicht immer in andere Kontexte übertragen lassen. Partnerschaft auf Augenhöhe bedeutet manchmal auch, Gewohntes aufzugeben und darauf zu vertrauen, Neues zu lernen und bereichert zu werden.
Frage: Am 24. November soll die Zukunftscharta zusammen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel verabschiedet werden. Danach soll die Umsetzung der gemeinsam erarbeiteten Ziele beginnen. Was erwarten Sie mit Blick auf diesen Prozess?
Spiegel: Bei der Umsetzung der Zukunftscharta ist es wichtig, dass sich das Entwicklungsministerium stets mit anderen relevanten Ministerien abstimmt, so dass die Repräsentanten verschiedener Politikfelder gemeinsam an den Zielen arbeiten. Entscheidend dabei ist, dass wir nie die Perspektive der Armen aus dem Blick verlieren. Es gibt nach wie vor 842 Millionen hungernde Menschen. Gleichzeitig sind eine Milliarde Menschen weltweit übergewichtig. Das darf nicht sein. Die Zukunftscharta kann wichtige Anstöße dafür geben, die Fragen nach Wachstum und Entwicklung neu zu diskutieren und gemeinsam mit den anderen Akteuren der Weltgemeinschaft Antworten zu finden.
Das Interview führte Lena Kretschmann.