Zuflucht bei den „Missionarinnen des Lebens“
„Wenn du als Prostituierte so alt wirst wie ich, hast du zwei Möglichkeiten zu sterben: den schnellen Ausweg – oder du findest doch noch einmal eine neue Chance.“ Als der Hunger zu groß wurde und Cicera nichts mehr anzuziehen hatte, schickte eine Freundin sie ein paar Häuser weiter. In der Nebenstraße leben seit zehn Jahren zwei Ordensschwestern der „Missionarinnen des Lebens“; sie haben sich zur Aufgabe gemacht, in diesem menschlichen Moloch seelischen und medizinischen Beistand anzubieten.
Cicera maulte: „Wenn schon meine Freunde nichts mehr von mir wissen wollen, warum dann die da, die mich nicht mal kennen?“ Aber sie ging trotzdem hin. Heute sagt sie: „Ohne meine Schwestern hier wäre ich nicht mehr am Leben.“ Schwester Marie-Belle, eine schmächtige junge Frau mit Brille, Pferdeschwanz und Kreuz auf der Brust, wirkt verhuscht auf den ersten Blick. Falsch. Sie ist eine Große; eine der wenigen, denen nichts passiert in „Vila Mimosa“. Ihren Status als Respektsperson hat sie sich erarbeitet, mit viel Mut, mit Geduld und Beharrlichkeit.
Eine offene Tür und ein offenes Ohr bieten die Schwestern, Lebens- und Rechtsberatung für die entrechteten Frauen, mit denen auch die brasilianischen Behörden gnaden- und herzlos sind. Im medizinischen Bereich arbeiten die Ordensfrauen mit einer Art Praxis-Vorposten zusammen. In dem Blechcontainer unmittelbar am Rande des Strichs versucht ein Gynäkologe, eine Grundversorgung mit dem Nötigsten bereitzustellen. Zweimal pro Woche bietet er Untersuchungen, Aids-Tests und Kondome an. Manche Frauen von „Vila Mimosa“ haben 30 Mal pro Tag Geschlechtsverkehr.
Die aufgedunsene Cicera ließen die Missionarinnen bei ihrer Ankunft gründlich durchchecken. Ebenso wichtig aber war die Erfahrung, als Mensch behandelt zu werden. Bei ihren Besuchen hier hat Cicera erfahren, dass sie singen kann, sogar sehr schön, mit einer tiefen, gefühlvollen Stimme. Nun wünscht sie sich ein spätes kleinbürgerliches Leben in Würde. Die Schwestern haben ihr einen kleinen Anschub finanziert. Cicera verkauft jetzt Süßigkeiten am Straßenrand – statt ihrer selbst.
Von Alexander Brüggemann