Frage: Wie sehen Sie das Spannungsverhältnis von militärischer Intervention und Entwicklungshilfe?
Müller: Ich bin gegen eine Militarisierung der Entwicklungspolitik. Hier muss eine klare Grenzlinie gezogen werden. Unser Auftrag liegt in der Stärkung der technischen und humanitären Zusammenarbeit. Außerdem wird immer offensichtlicher, dass wir eine Art internationales technisches Hilfswerk brauchen, das
Flüchtlinge
bei der Rückkehr unterstützt, zum Beispiel beim Bau von Unterkünften, und auch eine internationale Polizeieinheit, die die öffentliche Ordnung garantiert.
Frage: Vor den Toren Europas wütet seit drei Jahren der syrische Bürgerkrieg mit unglaublicher Brutalität. Wird Europa seiner Verantwortung gerecht?
Müller: Humanitär wird enorm viel geleistet vor allem durch die Helfer. Politisch herrscht eher Ratlosigkeit, weil China und Russland das Regime stützen. Deshalb müssen die Scheinwerfer der Weltöffentlichkeit auf diesen Massenmord von Assad am eigenen Volk gerichtet werden. Wir brauchen dringend humanitäre Korridore für Helfer im Sinne des Völkerrechts. Die Not der Flüchtlinge droht die gesamt Region zu destabilisieren.
Frage: Entwicklungszusammenarbeit fängt ja im Einkaufszentrum an. Die Deutschen spenden gern, aber billige T-Shirts wollen sie auch. Wie kann man das ändern?
Müller: Wir müssen den Konsumenten darüber informieren, wie und auf welchem Weg Lebensmittel auf den Tisch oder die Kleidung ins Regal kommen. Bei Textilien beginnt dies auf dem Baumwollfeld, wo teilweise Sklavenarbeit herrscht. Die Näherinnen in Bangladesch bekommen acht Cent die Stunde!
Frage: Aber da ist doch die Industrie gefordert.
Müller: Es ist unbestritten, dass es in der deutschen Industrie schon zahlreiche Aktivitäten gibt. Soziale Mindeststandards müssen aber Grundlage der gesamten Wertschöpfungskette werden. Das würde ein T-Shirt nur unmerklich verteuern. Zugleich müssen ökologische Maßstäbe gelten. Es darf nicht sein, dass wir Lederwaren angeboten bekommen, die von Kindern in Marokko ohne jeden Schutz in einer Giftbrühe gegerbt wurden.
Frage: Da braucht es schärfere Gesetze?
Müller: Die Industrie ist sich des Problems bewusst und hat teilweise eigene Standards entwickelt. Wir drängen aber auf ein allgemeines
Textilsiegel
. Dadurch kann auch der Kunde erkennen, dass die Standards eingehalten wurden. Der beste Weg ist eine freiwillige Selbstverpflichtung. Wenn das nicht reicht, müssen wir auf europäischer Ebene einen gesetzlichen Rahmen schaffen.
Frage: Herr Minister Sie sind ein Fußballfan. Trübt die soziale Lage in Brasilien ihre Vorfreude auf die Weltmeisterschaft?
Müller: Der brasilianische Fußball begeistert jeden. Und wir alle wünschen uns ein Endspiel Deutschland-Brasilien. Ich habe aber die Sorge, dass die
WM
kein Sommermärchen wird. Ein Stadion, das Millionen kostet, etwa für drei Vorrundenspiele in den tropischen Regenwald hineinzubauen, da bin ich als Fußballfan entsetzt!
Frage: Ist die WM für Brasilien ein Gewinn?
Müller: Ich befürchte ein ähnliches Desaster wie in Südafrika: Milliardeninvestitionen verkommen zu Ruinen und daneben darbt die Bevölkerung im Elend. Brasilien, das ist Straßenfußball! Aber ein Großteil der Bevölkerung hat überhaupt nichts von dieser Art von Großereignissen. Das schmerzt mich und tut weh.
Frage: Ist die FIFA schuld an der Fehlentwicklung?
Müller: Die FIFA muss als Ausrichter soziale und ökologische Standards berücksichtigen und einfordern, die auch eine spätere Nutzung einbeziehen. Aber auch Brasilien hat offenbar jedes Maß und jede Vernunft verloren.
Frage: Werden Sie nach Brasilien fahren?
Müller: Ich wurde eingeladen, aber ich fahre nicht hin. Als Fußballfan hätte mich das natürlich mehr als gereizt. Aber diese Konstellation unterstütze ich nicht. Ich sehe die Weiterentwicklung dieses materialistischen Spektakels in Katar und hoffe, dass die FIFA hier noch ein Stoppsignal setzt! Ansonsten wird der Fußballfan noch weiter von derartigen Ereignissen entfremdet.
Das Interview führten Christoph Scholz und Volker Resing