Frage: Sie arbeiten bei den Grünhelmen ohne großen Apparat. Zugleich haben Sie immer wieder die großen Hilfsorganisationen wegen mangelnder Flexibilität kritisiert. Gilt das immer noch?
Neudeck: In der Tat bin ich mit den großen UN-Organisationen immer noch über Kreuz – wegen ihrer First-Class-Mentalität, ihrem Absicherungsbedürfnis. Sie bräuchten eine Reform an Haupt und Gliedern. Sie sind nicht nah genug bei den Menschen in Not. Was aber nicht heißt, dass ich gegen die UNO bin. Im Gegenteil: Sie wird immer wichtiger. Was unsere eigene Arbeit angeht, glaube ich, dass wir sehr effektiv sind, ohne große Bürokratie, mit direkter unmittelbarer Kommunikation, natürlich nicht ohne Fehler. Da zitiere ich gern meinen theologischen Lehrer Johann Baptist Metz: Er forderte von seiner Kirche eine radikale Nachfolge Jesu, die auch manchmal subversiv sein kann. Das gilt auch für die humanitäre Hilfe.
Frage: Damit wären wir bei Ihrer katholischen Kirche, die Sie durchaus heftig kritisieren...
Neudeck: Natürlich kritisiere ich auch. Andererseits wird die Kirche immer wichtiger für die Menschheit – auch wenn die zurückgehenden Mitgliederzahlen in Deutschland einen anderen Eindruck erwecken. Aber im Evangelium ist uns nicht verheißen, dass wir unbedingt die Mehrheit der Bevölkerung stellen müssen.
Frage: Papst Franziskus und sein Besuch auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa dürfte Ihnen sehr gefallen haben...
Neudeck: Das war schon unglaublich, dass Franziskus seinen ersten offiziellen Besuch bei den Flüchtlingen dort macht. Das ist ein Auftrag an uns alle. Er verkörpert eine ganz andere Form von Kirche: Wir brauchen weniger Kirchbauten, weniger Weihrauch und Selbstbeschäftigung, dafür mehr Telefonseelsorge und konkrete Hilfe für Menschen in Not. Das ist für mich die Kirche von morgen. Wenn ich höre, dass der Bischof von Rottenburg-Stuttgart ein leerstehendes Kloster für Flüchtlinge öffnet, dann ist das ein Signal in diese Richtung, das mich unglaublich freut.
Frage: Was können denn Menschen tun, die nicht so in der Welt herumreisen wie Sie selbst?
Neudeck: Jeder kann in seinem Umfeld genug tun. Jeder von uns kann Flüchtlingen vor Ort helfen, sie bei Behördengängen begleiten, ihnen Sprachunterricht geben. Man muss ja gar nichts Unmögliches tun – es kann sogar Spaß machen.
Frage: Was wünschen Sie sich zu Ihrem 75. Geburtstag?
Neudeck: Ich habe drei Wünsche: Ich würde gern noch einmal einen Marathon laufen, und zwar im Gazastreifen, der eine Küstenlinie von genau 42 Kilometern hat. Außerdem möchte ich gern noch eine dieser wunderbaren arabischen Sprachen lernen – zumindest in Ansätzen. Und drittens möchte ich mich dafür einsetzen, dass die Stadt in Ostpreußen, die früher Königsberg hieß und noch heute nach dem Verbrecher und früheren sowjetischen Staatsoberhaupt Kalinin benannt ist, einen neuen Namen erhält. Ich möchte eine Initiative mit anstoßen, die Stadt nach ihrem früheren Bürger und größten Philosophen der Neuzeit zu benennen. Nach Kant.
Das Interview führte Christoph Arens