Von Abidjan nach Sfax
Inzwischen scheint Tunesien selbst auf dem Weg vom Transit- und Auswanderungsland zum Einwanderungsland zu sein. Als Adèle vor sieben Monaten von Côte d’Ivoire nach Tunesien kam, war sie voll Hoffnung: „Man hat mir erzählt, in Tunesien verdiene ich als Schneiderin mehr als doppelt so viel wie zu Hause. Ich wollte meiner Familie helfen“, sagt die junge Frau aus Abidjan, deren Gesicht von der Enttäuschung zerfurcht ist. Ein nigerianischer Vermittler, Lahual Tohin ist einer seiner vielen Namen, hat ihr eine Arbeitsstelle versprochen und ein Flugticket geschickt. Lahual hat Adèle am Flughafen in Tunis ihr Bargeld abgenommen und sie nach Sfax gebracht, doch nicht in die erwartete Textilwerkstatt, sondern als Putzfrau in eine Oberschichtsfamilie. „Ich arbeite den ganzen Tag, das Haus darf ich nicht verlassen. Ein eigenes Zimmer habe ich nicht. Essen bekomme ich, wenn die Familie satt ist“, flüstert Adèle fassungslos. Nur 400 Dinar im Monat, etwa 220 Franken, verdient sie, ohne Arbeitsvertrag, ohne Versicherung. Die ersten beiden Monatslöhne hat die Familie an den Vermittler gezahlt, dann wiederum 800 Dinar für die Aufenthaltsgenehmigung, die sie aber bis heute nicht hat. „Neulich wollte der Patron meinen Pass. Aber ich habe ihn ihm nicht gegeben“, sagt Adèle mit dem Mut der Verzweifelten, die viele andere Frauen von Côte d’Ivoire kennt, die in der gleichen Sackgasse stecken wie sie. Wenn sie könnte, kehrte sie sofort nach Abidjan zurück.
Immer noch besser als daheim
Jonathan Wyok Bahago, der zur katholischen Gemeinschaft der
Weißen Väter
gehört, hat im Stadtzentrum von Sfax ein offenes Haus, Ohr und Herz für Menschen in Not. Der charismatische Nigerianer hält bis heute täglich den Kontakt zu den 170 verbliebenen Flüchtlingen in dem offiziell seit einem halben Jahr geschlossenen Uno-Durchgangslager Choucha an der libyschen Grenze. Père Jonathan ist die Anlaufstelle für afrikanische Studenten, Flüchtlinge und Migranten, für Menschen, die über das Meer wegwollen, und für Frauen wie Adèle. Weil er das Problem an der Wurzel packen will, hat er die Organisation „Intelligence Africaine“ gegründet: „Wir wollen die wachsende afrikanische Diaspora hier stärken und schützen, ohne Ansehen der Religion. Wir müssen die tunesische Gesellschaft sensibilisieren und zeigen, was wir Afrikaner beitragen können.“ Wer aus Côte d’Ivoire, Senegal, Mali oder Mauretanien nach Tunesien einreist, braucht kein Visum und hat neunzig Tage Aufenthaltsrecht.
„Es gibt Menschenhändlerringe in Tunesien, aber der Staat schaut weg“, erklärt Père Jonathan. Früher hätten die reichen Städter Mädchen vom Lande für die Hausarbeit angestellt, doch heute suchten immer mehr Migranten aus dem subsaharischen Afrika ihr Glück in Tunesien und nähmen diese Stellen an. Reguläre Visumsanträge stellen in Tunesien vor allem Studenten aus Subsahara-Afrika. „Während der Diktatur gab es nur versteckten Rassismus. Seit der Revolution segelt er ganz offen unter dem Banner der Meinungsfreiheit“, sagt der Ivoirer Blassami Touré von der Studentenorganisation Aesat (Association des étudiants et stagiaires Africains en Tunisie). Fast täglich gebe es Übergriffe und Beschimpfungen. Sexuellen Belästigungen und versuchten Vergewaltigungen sehe die tunesische Polizei oft tatenlos zu. Bis das Innenministerium eine Aufenthaltsgenehmigung ausstelle, könne bis zu einem Jahr vergehen: „Der tunesische Staat diskriminiert uns systematisch. Die Universitäten kümmern sich nicht um Integration“, kritisiert der 32-jährige Touré. Arbeitserlaubnisse an Subsahara-Afrikaner vergibt Tunesien nicht, obwohl es bis zu 100.000 offene Stellen zum Beispiel im Bausektor oder in der Landwirtschaft gibt, gerade während der Olivenernte. Auf die Frage, warum dennoch viele Studenten nach Tunesien kämen, antwortet Touré lächelnd: „Weil es hier immer noch besser ist als zu Hause. Und weil der Mythos Europa nur zwei Schritte entfernt scheint.“