Bei allen Besuchen in Bagdad gibt es nur ein Thema: Auswanderung. Die Menschen wollen weg. Weil sie Angst haben, weil die Jugendlichen keine Arbeit finden, weil sie die teuren Mieten nicht mehr bezahlen können, weil sie sich bedrängt fühlen von einem aggressiven Islam. Bei einem Gottesdienst am Sonntagabend können wir uns selbst ein Bild davon machen. Gut hundert Menschen haben sich in der Kirche eingefunden. Kaum ist der Priester an den Altar getreten, beginnt draußen ein ohrenbetäubender Lärm. Von der benachbarten Moschee dringen Koranverse herüber. Die plärrenden Lautsprecher sind direkt auf die Kirche gerichtet. Obwohl Fenster und Türen geschlossen sind, sind die Worte des Priesters kaum zu verstehen. Mein Herz zieht sich zusammen. Wie kann man sich in dieser Atmosphäre auf den Gottesdienst konzentrieren? Eine Stunde dauert die „Vorführung“ der Moschee, genau so lang wie die Messe. „Das ist jedes Mal so“, erklärt der Pfarrer. Die Botschaft ist eindeutig: Verschwindet von hier; wir werden euch keine Ruhe lassen!
Angst vor Anschlägen
Viele sind schon weg; die anderen wollen gehen. Weit mehr als die Hälfte der Christen hat Bagdad verlassen. Für die, die geblieben sind, gibt es wenig Hoffnung. Auf dem Weg nach Hause hören wir im Stadtzentrum plötzlich einen lauten Knall. Der Fahrer wird nervös, drückt aufs Gas. „Eine Explosion!“, vermutet sein bewaffneter Begleiter und greift zum Telefon, um seine Frau anzurufen. Die Kinder sind zu Hause – Gott sei Dank, alles in Ordnung bei der Familie! Noch schneller als sonst rasen wir durch die Stadt, passieren mit Sondergenehmigung die zahlreichen Checkpoints. Unsere Begleiter beruhigen sich erst wieder, als wir in unserem Quartier angekommen sind. Das Patriarchat, in dem wir untergebracht sind, ist weiträumig vom Militär abgeriegelt. Das Gelände ist einigermaßen sicher. Aber wir haben an diesem Tag einen Eindruck bekommen, wie die Menschen sich fühlen müssen: als Minderheit bedrängt und in ständiger Angst vor Anschlägen.
Nicht besser ist es in Mossul im Nordwesten des Landes. Eine Übernachtung dort wäre zu gefährlich, denn fast täglich kommt es zu Entführungen. Aber tagsüber hält der Erzbischof einen Besuch für möglich – allerdings nicht überall in der Stadt, denn aus den südlichen Stadtteilen haben sich Militär und Polizei ganz zurückgezogen. Dort herrscht die Terrorgruppe ISIS – Islamischer Staat in Irak und Syrien. Die Terroristen haben Christen und andere Minderheiten vertrieben. Von den Menschen, die geblieben sind, erpressen sie Schutzgelder. Das gilt auch für andere Stadtviertel. So erzählen uns Schwestern, dass sie ihr Kloster nicht mehr verlassen können. Selbst das Altenheim auf der gegenüberliegenden Straßenseite mussten sie aufgeben und einen Teil der Bewohner ins Kloster umquartieren, obwohl dort kaum Platz ist. „Ihr missioniert hier“, haben die islamistischen Fundamentalisten ihnen vorgeworfen und ihnen den Ausgang verboten. Die Schwestern haben keine Wahl. Was mit denen passiert, die nicht kooperieren, erfahren sie immer wieder. Vermummte kommen nachts, legen Sprengstoff in den Häusern und sprengen sie in die Luft. Den Betroffenen bleibt nur die Flucht.
Bischof entführt und tot aufgefunden
Genauso haben es Terroristen 2004 mit dem Bischofshaus gemacht. Das Gebäude ist völlig verwüstet, das Kreuz auf dem Dach haben die Terroristen heruntergerissen. Der damalige Erzbischof, Paulos Faraj Raho, wurde im Februar 2008 entführt und wenig später tot aufgefunden. „Wir sind niemandes Feind, und für diejenigen, die uns als Feinde behandeln, wollen wir beten“, steht auf seinem Grab. Wahrscheinlich hat er geahnt, dass er sein Leben für diese Vision würde hingeben müssen.