Schwierigste Verhältnisse
Wie schlecht es um die Bildungschancen für die sozial Benachteiligten steht, zeigt sich in der katholischen Armenschule „Seine Heiligkeit Johannes XXIII.“ im Barrio La Legua der Hauptstadt Santiago. Hier, im schäbigen Drogenumschlagsplatz Nummer eins der Millionenstadt, wird abends regelmäßig geschossen. In dem Viertel gehen immer noch 300 Kinder überhaupt nicht zur Schule, berichtet Schulleiterin Maria Alejandra Bienavidez. Die 9- bis 15-jährigen Grundschüler kommen aus schwierigsten Verhältnissen: kaputte Familien, Arbeitslosigkeit, Drogen, häusliche Gewalt, nächtliche Razzien.
Vor allen anderen müssen die Lehrer emotionale Beziehungen zu den Kindern aufbauen. „Es muss ihnen Spaß machen, sonst kommen die meisten Schüler nicht, und sie lernen auch nicht. Viele der Eltern kümmern sich jedenfalls nicht darum.“ Bleiben die Schüler fern, dann bleibt den Lehrern nur der Besuch in den Häusern. „Das konnten und wollten auch nicht alle Kollegen“, sagt die Schulleiterin. In La Legua blieben nur die sozial Engagierten. „Wenn noch nicht mal der Lehrer hier an den Schüler glaubt, kann es nichts werden.“ Als wichtigstes Ziel des Schulbesuchs gibt Bienavidez aus, die Schüler müssten zumindest „die Chance bekommen, sich in die Gesellschaft zu integrieren und zu entwickeln“.
Die Finanzierung funktioniert über ein staatliches „Kopfgeld“ pro Schüler – allerdings nicht nach eingeschriebenen Schülern, sondern nach jenen, die nachweislich auch am Unterricht teilnehmen. Die Johannes-XXIII.-Grundschule hat so ständig Schulden und knapst am niedrigsten Level des möglichen Personalstands. Aber, so Direktorin Bienavidez: „Was wir wollen, sind nicht vor allem viele, sondern gute Lehrer!“ Hunger mag es in Chile weniger geben als in anderen Ländern Lateinamerikas – doch der Hunger nach Bildung ist riesig in einer Marktwirtschaft ohne menschliche Komponente.
Von Alexander Brüggemann