Frage: Gleitet Ägypten in einen Bürgerkrieg ab?
Marcinkowski: Zurzeit ist es noch sehr schwierig, eine derartige Festlegung zu treffen. Man sollte aber in der Tat die Gefahren nicht unterschätzen. Ein Bürgerkrieg würde vor allem die islamistischen Kräfte stärken, weil die säkularen, liberalen Kräfte in Ägypten zahlenmäßig stark unterlegen sind. Deshalb gilt es langfristig, unbedingt auf Dialog mit dem derzeitigen Regime zu setzen, das weiß sicher auch die Bundesregierung. Wirtschaftshilfe – worunter ausdrücklich nicht Militärhilfe verstanden ist – kann mithelfen, Ägypten zu befrieden, wenn an die Hilfe Bedingungen geknüpft werden. Dazu zählen die Einhaltung der Menschenrechte oder der Schutz der Religionsfreiheit. Allerdings sollte man auch wissen, dass eine solche Wirtschaftspolitik nicht einfach zu realisieren ist, weil Ägypten schon aus Saudi-Arabien und Katar massive Hilfen erhält, die nicht an solche Bedingungen geknüpft sind.
Frage: Stichwort Einflussnahme durch Saudi-Arabien und Katar. Welche geopolitischen Interessen stehen hier auf dem Spiel? Droht Ägypten zu einem Spielball im Nahen Osten zu werden?
Marcinkowski: Ein Problem ist in der Tat die Einflussnahme regionaler wie auch globaler Mächte auf die Ereignisse in Ägypten. Im Bereich der islamischen Welt denke ich einerseits an Katar und Saudi Arabien. Beide versuchen zurzeit durch die großzügige Vergabe von Krediten an das von einer Wirtschaftskrise geschüttelte Land, ihre politischen Ziele in der Region zu verwirklichen. Im Falle Saudi-Arabiens wäre dies die Errichtung eines Gürtels von Wahhabismus-freundlichen Staaten um seine Grenzen herum, also auch etwa in Syrien und Jordanien, ja langfristig sogar im schiitisch-geprägten Irak, sowie die Förderung salafistischer Bewegungen in der Region. Die Rolle Katars ist hier im Moment weniger eindeutig. Es scheint jedoch, dass Katar klar auf die Muslimbrüder setzt, was auch die Türken tun. Im Bereich der nicht-muslimischen „Spieler“ gilt die Hauptsorge der westlichen Welt natürlich der Sicherheit des Suez-Kanals und der Beibehaltung des Friedensabkommens mit Israel. Eine Unterstützung der Hamas im Gazastreifen durch Ägypten und die Existenz terroristischer Extremisten auf der ägyptischen Sinaihalbinsel sind da wenig hilfreich.
Frage: Ein Problem für Ägypten ist, dass die traditionellen islamischen Autoritäten an Einfluss verlieren, eine Art wilder Islamismus wuchert. Können Sie das beschreiben?
Marcinkowski: Der Verlust des Einflusses der traditionellen islamischen Rechtsgelehrsamkeit in demographisch mehrheitlich sunnitischen Staaten wie Ägypten scheint mir in der Tat das Grundproblem zu sein. Das hat auch historische Ursachen. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden islamische Autoritäten in solchen Staaten vom Staat bezahlt, eine Art Staatsbeamtentum, das umgekehrt die staatlichen Führungen religiös legitimierte. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zerfall des Osmanischen Reiches drangen nationalistisches und säkulares Denken aus dem Westen in diese Gesellschaften ein, während des Kalten Krieges auch sozialistische Ideologien. Das führte zu Identitätskrisen in islamischen Mehrheitsgesellschaften und zu einer Erosion der Autorität der bisherigen islamischen religiösen Führer. In dieses Vakuum stießen und stoßen extremistische Prediger und verbreiten ein Denken, das dem klassischen Islam fremd ist. Und das macht es schwer zu identifizieren, wer für „den“ Islam spricht.