Kirche ohne Illusionen
Paderborn ‐ Sich als Christen in einer Minderheitensituation zu befinden, ist kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Bei einem international besetztem Werkstattgespräch zeigte das Bonifatiuswerk, wie lebendiges Gemeindeleben trotzdem funktionieren kann.
Aktualisiert: 04.01.2023
Lesedauer:
Die Christen in Deutschland sind nicht auf dem Weg in eine Minderheitensituation, sie sind schon mittendrin. Dass das kein Grund sein muss, den Kopf in den Sand zu stecken, ist am Wochenende bei dem international besetzten Werkstattgespräch „Kirche ohne Illusionen“ mit 60 Teilnehmern im Paderborner Bildungs- und Tagungshaus Liborianum deutlich geworden. Veranstalter waren das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken und das Erzbistum Paderborn.
In mehreren Erzählwerkstätten berichteten Seelsorgerinnen und Seelsorger von ihrer Arbeit in einer zum Teil extremen Diaspora. Wissenschaftler ordneten darüber hinaus die aktuellen Entwicklungen ein. Unter den Gästen war auch der Bischof von Island, David Tencer.
Professor Dr. Jan Loffeld von der niederländischen Universität Tilburg ging thesenartig auf eine Allensbach-Studie aus dem vergangenen Jahr ein, wonach sich die Abwendung der Menschen vom Christentum in drei Stufen vollziehe. Zuerst verlören die Menschen den Glauben an die Inhalte des Christentums. Dieser Prozess sei sehr weit fortgeschritten, nur noch jeder Zehnte fühle sich einer der christlichen Kirchen eng verbunden. Dann folge in einem zweiten Schritt der Kirchenaustritt. Der dritte Schritt sei die Abwendung von der christlichen Kulturtradition, die zunächst für eine gewisse Zeit weitergepflegt würde – auch ohne religiöse Fundierung.
Umso wichtiger ist es nach Ansicht des evangelischen Pastors Martin de Jong, dass die christlichen Kirchen neue zeitgerechte Angebote schaffen. In den Niederlanden, wo de Jong lebt und arbeitet, sind 250 sogenannte Pionierorte entstanden. Orte, an denen eine neue Form von Glaubensgemeinschaft gelebt werde. Vor allem junge Leute, so de Jong, wollten zwar dazugehören, aber nicht für lange Zeit. „Sie kommen für drei bis vier Jahre und sind dann wieder weg“, berichtete de Jong. Mancher Pioniertort sei so auch schon wieder aufgegeben worden. Pionierort-Gründer müssten nicht nur gute Seelsorger, sondern auch Unternehmer sein, die Strategien und Geschäftsmodelle entwickeln.
Jesuitenpater Dominik Terstriep, Pfarrer der Gemeinde St. Eugenia in Stockholm, berichtete von seinen Erfahrungen in der Diaspora-Seelsorge. In Schweden gebe es etwa 126.000 Katholiken, die in den Pfarrämtern registriert seien. Das sind 1,2 Prozent der schwedischen Bevölkerung. „Wir gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl bei etwa 280.000 liegt“, sagte Terstriep. 80 Prozent davon hätten einen Einwanderungshintergrund. Im Unterschied zur katholischen Kirche in Deutschland sei man in Schweden im Wachstum begriffen – jung und international. „Wir bauen Kirchen oder kaufen der protestantischen Kirche, der ehemaligen Staatskirche, Gotteshäuser ab.“ Mit Blick auf die katholische Kirche in Deutschland fragte Terstriep, wo in den Gemeinden die Einwanderer seien. „Es muss sie ja geben. Wenn ich aber meine Eltern im Bistum Münster besuche, sitzen in der Kirche dieselben Leute wie vor 30 Jahren“.
Propst Gregor Giele von der Propsteigemeinde St. Trinitatis in Leipzig lenkte den Blick in seiner Erzählwerkstatt auf die Situation der katholischen Kirche in Ostdeutschland. Nach seiner Überzeugung marginalisiere sich die Kirche selbst: „Wir nehmen zu gesellschaftlich relevanten Themen wie Bürgergeld oder Waffenlieferungen an die Ukraine keine Stellung.“ Im vergangenen Jahr habe es in Leipzig eine Stadtsynode gegeben, um zu analysieren, wozu Kirche in Leipzig da sei. „Karitatives Wirken wurde dabei als ein sicherer Hafen gesehen, der Bonus mit der höchsten Anerkennungsrate“, sagte Giele. Aufgefallen sei aber auch, dass es ein „kirchliches Konkretisierungsdefizit gebe“ und dass die „Fixierung auf die kirchliche Situation als permanente Störung“ empfunden werde.
Wie es einer katholischen Initiative gelingt, Menschen einzubinden, die eher kirchenfern sind, berichtete Martina Steinfurth von den Lazarusdiensten aus Stralsund. Mehr als 100 Ehrenamtliche arbeiten dort mit, begleiten Schwerkranke und sterbende Menschen. „Wir kümmern uns auch um die Trauernden“, erzählte Steinfurth. Beerdigungen würden mit christlichen und weltlichen Andachten gestaltet. Für ältere Menschen gebe es Gesprächsangebote wie die „Caritasse“ nach dem Gottesdienst. Bei diesen Situationen komme man auch immer wieder über Gott und den Glauben ins Gespräch, sagte Steinfurth.
„Es hat keiner mehr eine Dauerkarte“, sagte Pfarrer Ansgar Schocke mit Blick auf die Kirchenmitgliedschaft. Er ist Seelsorger im Dortmunder Norden, einem stark von Einwanderung geprägten Stadtbezirk mit wenigen bekennenden Katholiken. Das Wirken von Kirche müsse über die Verkündigung des Wortes hinausgehen. 55 Prozent der Kinder im Dortmunder Norden lebten in Familien, die staatliche Unterstützungsleistungen beziehen. Ihm und seinem Team liegt darum die Sozialarbeit im Stadtteil am Herzen. So wurde das Gemeindehaus einer Pfarrei gemeinsam mit katholischen Sozialorganisationen zu einer Sozialberatungsstelle umgenutzt. „Das ist ein Ort, an dem Menschen schnell Hilfe, aber auch einen Kontakt zur katholischen Kirche bekommen“, sagte Schocke.
Zum Abschluss der Tagung sagte Dr. Dr. Florian Baab von der Universität Hamburg, dass die Kirche für ihre Werte geschätzt werde. Aber die Distanz der Menschen zum Christentum sei größer geworden. Ein Prozess, der sich in den kommenden Jahren noch beschleunigen werde. Vor dem Hintergrund sinkender Mitgliederzahlen sagte Dr. Anne Rademacher, Leiterin des Seelsorgeamtes Erfurt, dass es durchaus möglich sei, dass „wir uns an der ein oder anderen Stelle auflösen“.
Monsignore Dr. Michael Bredeck, Diözesanadministrator des Erzbistums Paderborn, zeigte sich dankbar für die Tagung, „weil wir hier ehrlich waren“. Im Mittelpunkt stehe die Frage, wie viele Menschen religiös ansprechbar seien. Seiner Einschätzung nach sei es möglich, diese vor allem in der Sakramentenpastoral zu erreichen. Die positive Erfahrung und Kooperation des Werkstattgesprächs solle weitergeführt werden. Für Monsignore Georg Austen, Generalsekretär des Bonifatiuswerkes, hat das Werkstattgespräch wichtige Impulse gebracht: „Wir sind in der Wirklichkeit angekommen. Es ist notwendig, grenzüberschreitend und auch verbindend als Weltkirche zu denken. Wir können viel voneinander, aber auch miteinander lernen“, sagte Monsignore Austen. Es gelte die Veränderung, nicht nur zu erleiden, sondern neu zu gestalten. Das Bonifatiuswerk schaffe mit seinen unterschiedlichen Angeboten seit fast 175 Jahren „Ermöglichungsräume und auch Entdeckungsräume der Begegnung mit Gott und den Menschen“.
Bonifatiuswerk