Papst Franziskus sitzt mit Angehörigen der First Nations in Kanada auf einem Podium und spricht in ein Mikrofon
Folgen des Kolonialismus

Eine Bilanz der Kanada-Reise von Papst Franziskus

Ottawa ‐ Trotz massiver Knieprobleme wollte der Papst unbedingt nach Kanada reisen. Zu wichtig waren ihm die Vergebungsbitten an die Indigenen des Landes. Allerdings lösten seine Worte gemischte Reaktionen aus. Weiteres muss folgen.

Erstellt: 01.08.2022
Aktualisiert: 13.09.2022
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„Es stimmt; ja, es ist Völkermord.“ Auf diesen Satz des Papstes hatten nicht nur die rund 1,6 Millionen indigenen Menschen in Kanada – First Nations, Metis und Inuit – gewartet. Fast eine Woche lang, während das katholische Kirchenoberhaupt ihr Land besuchte und um Vergebung bat „für das Böse, das von so vielen Christen an den indigenen Bevölkerungen begangen wurde“. Aber erst auf dem Rückflug nach Rom, befragt von einem indigenen Journalisten, nahm Franziskus das Wort „Genozid“ in den Mund. Warum?

Es sei ihm nicht in den Sinn gekommen, gab der Papst als Grund an. Die Aussage muss verwundern. Papstreden, zumal solche zu anspruchsvollen und heiklen Themen, werden in mehrstufigen Prozessen von Fachleuten vorbereitet. Ebenso die Übersetzungen. Daran sind in der Regel auch die Kirche und staatliche Stellen des besuchten Landes beteiligt. Nachdem Kanadas staatliche Aufklärungskommission die harte Assimilierungspolitik in den kirchlich betriebenen Residential Schools bereits 2007 als „Völkermord“ bezeichnet hatte, war klar: Diese Aussage erwartet man auch vom Papst. Er habe im Grunde „den Völkermord beschrieben und um Verzeihung und Vergebung gebeten“, fügte Franziskus auf dem Rückflug hinzu.

In der Tat war er weit über das hinausgegangen, was seine Vorgänger über Kirche und Kolonialismus gesagt hatten. So hatte 2007 Benedikt XVI. im brasilianischen Aparecida gesagt, die Indigenen hätten vor 500 Jahren bereits unbewusst auf ihre Evangelisierung gewartet – womit er heftigen Protest erntete. Johannes Paul II. sprach bei seiner ersten Lateinamerika-Reise 1979 noch davon, bei der Missionierung des Kontinents sei „unter Schwierigkeiten und Opfern Schönes erreicht“ worden, „wenn auch nicht frei von Schatten“. In seinen Botschaften an Indigene und Afroamerikaner 1992 sowie in den Vergebungsbitten des Heiligen Jahres 2000 bat er dann um Vergebung für die Verquickung von Mission und Kolonialismus.

Nur ein „erster Schritt“

Die jüngste Papstreise sei nur ein „erster Schritt“, hieß es in Kanada. Genauer war es ein dritter Schritt der katholischen Kirche. 2021 hatten Kanadas katholische Bischöfe um Vergebung gebeten und mit ersten Entschädigungszahlungen begonnen. Dann empfing Franziskus Ende März Delegationen indigener Völker in Rom, um sich von ihnen schildern zu lassen, was sie und ihre Angehörigen in den Residential Schools erlebt hatten.

Sie waren ihren Familien entrissen, ihrer Kultur beraubt und der europäischen angepasst sowie misshandelt und missbraucht worden. Am Ende bat der Papst auch dort um Vergebung für „das beklagenswerte Verhalten“ von „Mitgliedern der katholischen Kirche“. Weitere konkretere Schritte müssen folgen; darin waren und sind sich alle einig. Wie diese aussehen sollten, wird unterschiedlich akzentuiert.

Finanzielle Entschädigungen? Rückgabe indigener Kunst- und Kultgegenstände aus kirchlichen Museen, auch den vatikanischen? Die ebenfalls geforderte Öffnung der Archive von Bistümern, Vatikanbehörden und Ordensgemeinschaften in Kanada und in Rom wird dauern. Zu gering ist die Personalausstattung, zu weit verstreut sind Dokumente über die katholische Kirche in Kanada.

Weiter aufgearbeitet werden muss die Rolle von Päpsten und Kurie bei der Entdeckung, Eroberung und Versklavung während der europäischen Expansion. Im 15. Jahrhundert hatten insbesondere zwei Päpste, Nikolaus V. (1447-1455) und Alexander VI. (1492-1503), Eroberung und Entrechtung nicht-christlicher Völker gutgeheißen, Portugals und Spaniens Könige sogar eigens dazu ermächtigt. Andere, auch protestantische Kolonialmächte übernahmen dieses Denken bereitwillig.

Diese Lehre, seit kurzem unter dem englischen Begriff „doctrine of discovery“ (Entdeckungsdoktrin) verhandelt, floss in Gesetze sowie Gerichtsurteile in USA und Kanada ein. Er müsse diese Lehre seiner Vorgänger zurücknehmen, forderten indigene Vertreter von Franziskus. Noch während der Reise hieß es, Kanadas Bischöfe, der Vatikan und andere Experten arbeiteten an einer Erklärung.

Die werde eher keinen direkten Widerruf früherer Papst-Dokumente enthalten, sondern eine Umdeutung, vermutet der Kirchenhistoriker Mariano Delgado. Zudem könnte man darauf verweisen, dass schon damals Theologen auch anders argumentierten, ja selbst Päpste sich teils anders äußerten.

Aus heutiger Sicht irrige und falsche Aussagen aus Geschichte und Tradition schlicht auszuradieren, ist aus Sicht von Historikern, nicht nur kirchlichen, unangemessen. Eine solche „cancel culture“ kritisierte Franziskus auch in Kanada. Und er warnte vor neuen Kolonialismen. „Ideologischen Kolonialismus“ nennt er es, wenn westliche Staaten und Organisationen ihre individualistisch-liberale Sicht zu Ehe, Familie, Sexualität und Lebensrecht oder ihre kapitalistisch-konsumistische Sicht in Wirtschaftsfragen anderen Staaten und Kulturen aufdrängen.

Vergebung gewähren können nur einzelne

Seine Bitten um Vergebung konnte der Papst kollektiv formulieren. Vergebung gewähren können nur Einzelne; auch das war unumstritten während der Reise. Manche können das, andere nicht. So schleuderte am Ende der Feier in Maskwacis eine Vertreterin der örtlichen First Nations dem Papst ihren Schmerz und weitere Erwartungen zornig entgegen. Gleichzeitig sagte ein alter Inuit im kanadischen Fernsehen, er könne der Vergebungsbitte des Papstes entsprechen. Nun finde er Frieden – und könne seiner Familie ein besserer Ehemann, Vater und Großvater sein. Was kirchliche Mitarbeiter in den Residential Schools anrichteten, traumatisierte eben nicht nur die Schüler, sondern ganze Generationen.

Wie Franziskus Neuanfang und Versöhnung vor allem vorstellt, sagte er vor Mitgliedern einer Pfarrei in Edmonton, zu der indigene Kanadier wie Nachkommen europäischer Einwanderer gehören. „Gesten und Besuche mögen wichtig sein, aber die meisten Worte und Aktivitäten der Versöhnung finden vor Ort statt, in Gemeinschaften wie dieser, wo Menschen und Familien Tag für Tag Seite an Seite leben.“

Von Roland Juchem (KNA)