Europa: Verheißung oder Schande?
Flüchtlinge ‐ Menschen, die vor mörderischen Stellvertreterkriegen im Nahen und Mittleren Osten, vor Terror und Elend fliehen, werden an Europas Grenzen abgewiesen. Unerbittlich, starr, abwehrend, verletzend. Ist Europa dabei, seine Seele zu verlieren? Das fragt Thomas Broch aus dem Bistum Rottenburg-Stuttgart. Ein Kommentar.
Aktualisiert: 09.06.2016
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Grenzen“, so heißt die Installation der Künstlerin Michaela Karle. Eine Grenze bildet die Linie, die das Land vom Meer trennt. Dort das Meer in seiner Weite und in seiner Ahnung grenzenloser Freiheit, aber auch in seiner unberechenbar bedrohlichen Gewalt, die Untergang und Tod bereithält. Hier das Land, das Sicherheit verheißt und festen Boden unter den Füßen, das aber auch unwirtlich und ungastlich erscheint, das die Gestrandeten mit der trostlosen Härte von Steinen erwartet.
Drastisch wirken die Skulpturen, die wie Wächter das Land vor dem Meer bewachten, warnend, drohend, feindselig, bereit zur Abwehr. Unverrückbar wirken diese in den Boden gerammten Pfosten, umwickelt mit dem rostigen Stacheldraht, der einmal den Weg über eine Grenze oder die Flucht aus einem Lager verwehrt haben mag. Er scheint funktionslos, dieser Stacheldraht, wie er diese Pfosten umhüllt. Er markiert keine Grenze mehr und hält niemanden mehr in einem Lager gefangen. Aber das ist auch nicht nötig. Er symbolisiert eine Haltung, unerbittlich, starr, einschließend und ausschließend, abwehrend und verletzend. Eine Haltung, die vorherrscht, bevor Grenzen aus Stacheldraht gebaut werden und den Verzweifelten den Zugang zu sicherem Land verwehren. Eine Haltung, die vorherrscht, bevor Menschen in Lager eingesperrt werden, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, als vor Menschen- und Bombenterror zu fliehen oder der schieren Not zu entkommen. Eine Haltung, die vorherrscht, bevor man anfängt, Menschen, die auf seeuntüchtigen Schiffen und ausgebeutet von kriminellen Menschenhändlern versuchen, rettenden Boden zu erreichen, wieder zurück schickt in die Hoffnungslosigkeit. Es betrifft nur die „illegal Eingereisten“, heißt es, als ob man in einem vom Bürgerkrieg heimgesuchten Land oder unter dem Terror von Mörderbanden irgendwelche Möglichkeiten legaler Aus- oder Einreise haben könnte.
Das Bild zeigt keine Menschen. In den Herzen und Köpfen derer, die unerbittlich und stacheldrahtumwunden da stehen, scheinen Menschen auch nicht vorzukommen – allenfalls in Form von Krisen, Fluten, Schwemmen und anderen an Naturkatastrophen erinnernden Bildern. Aber es sind keine Naturkatastrophen, vor denen wir uns schützen müssten; es sind vielmehr Menschen, die vor menschengemachten Katastrophen flüchten und bei uns Schutz suchen. Sie flüchten vor mörderischen Stellvertreterkriegen im Nahen und Mittleren Osten, vor ideologisch verblendetem und religiös verbrämtem Terror, vor einem Elend, zu dessen Ursachen auch unser Lebensstil gehört. Ich weiß nicht, wie es heute möglich sein kann, die schlimmsten Ursachen der Flucht zu verhindern oder wenigstens einzudämmen. Gewiss sind humanitäre Hilfeleistungen gut und notwendig, um wenigstens da und dort den Menschen ein wenig bessere Lebensbedingungen zu verschaffen und sie dort zum Bleiben ermutigen, wo sie ohnehin am liebsten leben möchten. Aber ich betrachte inzwischen die politische Rhetorik, man müsse und wolle Fluchtursachen bekämpfen, als kaum verbrämte Heuchelei. Nicht Fluchtursachen werden bekämpft, sondern Flüchtlinge. Es ist der falsche Weg, Grenzzäune und Sperranlagen zu bauen, die letztlich nur die Strapazen, die unerträglichen Lebensumstände und die tödlichen Gefahren für die Unglückseligen vermehren. Es ist höchst fragwürdig, geflüchtete Menschen der Verantwortung eines Staates wie der Türkei zu überlassen, dessen Umgang mit Menschenrechten uns mehr und mehr das Fürchten lehrt, der Journalisten mit drakonischen Haftstrafen sanktioniert, die über seine Waffenlieferungen an Dschihadisten berichten. Und es erscheint fast unglaublich, die Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären; die Menschenrechtssituation dort kann nur Blinden verborgen sein.
„Nicht Fluchtursachen werden bekämpft, sondern Flüchtlinge.“
Menschen sollen ferngehalten werden, und Menschenrechte werden exterritorialisiert. Aber sie lassen sich nicht exterritorialisieren – es sei denn, wir verraten nicht nur die Menschen, die auf uns ihre Hoffnung setzen, sondern uns selbst in dem, was der Kern unserer europäischen Kultur ist: elementare Menschlichkeit. „Wer vergessen hat“, sagt Navid Kermani am 18. Oktober 2015 in der Frankfurter Paulskirche, „warum es Europa braucht, muss in die ausgemergelten, erschöpften , verängstigten Gesichter der Flüchtlinge blicken, die alles hinter sich gelassen, alles aufgegeben, ihr Leben riskiert haben für die Verheißung, die Europa immer noch ist.“ Ist Europa noch diese Verheißung? Oder ist Europa dabei, seine Seele zu verlieren? Für mich ist Idomeni zum symbolischen Namen für die Schande Europas geworden. „Was ist mir dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit?“, hat Papst Franziskus Anfang Mai bei der Verleihung des Aachener Karlspreises gefragt. Und er hat gesagt: „Ich träume von einem Europa, in dem das Migrantsein kein Verbrechen ist. Ich träume von einem Europa, von dem man nicht sagen kann, dass sein Einsatz für die Menschenrechte an letzter Stelle seiner Visionen stand.“
Von Thomas Broch, Bischöflicher Beauftragter für Flüchtlingsfragen der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Quelle: DRS.GLOBAL – Aus der weltkirchlichen Arbeit der Diözese Rottenburg-Stuttgart Juni 2016 . Mit freundlichem Dank für die Genehmigung.
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