Venezuela am Scheideweg
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Venezuela am Scheideweg

Venezuela ‐ Die politische und wirtschaftliche Lage in Venezuela gleicht aktuell einem Pulverfass. Schwere politische Spannungen und eine Versorgungskrise erschüttern das Ölland. Ein Gastbeitrag von Peter Weiß, entwicklungspolitischer Sprecher des ZdK, über ein Land am Scheideweg und die Hoffnung auf einen Neuanfang.

Erstellt: 30.09.2016
Aktualisiert: 30.09.2016
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Die politische und wirtschaftliche Lage in dem Ölland Venezuela gleicht aktuell einem Pulverfass. Über Jahre hinweg hat die Ölproduktion durch den staatlichen Ölkonzern PDVSA einen Großteil der gesamten Wirtschaftsleistung und praktisch die gesamten Exporte des Landes ausgemacht, während die Wettbewerbsfähigkeit der Nicht-Ölsektoren unter hohen Lohnstückkosten durch die überbewertete Landeswährung litt.

Versuche, die venezolanische Wirtschaft zu diversifizieren und so die Abhängigkeit vom Öl zu verringern, blieben hingegen erfolglos. Stattdessen wurden mit den Erdöleinnahmen milliardenschwere Sozialprogramme, die so genannten „Misiones“, finanziert oder die Gelder versandeten in korrupten Strukturen.

Heute sprechen viele Anzeichen dafür, dass sich Venezuela am Scheideweg befindet. Das ambitioniert gestartete Projekt und der einst weltweit von den politischen Linken gefeierte Traum des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ scheinen von der Realität eingeholt zu werden. Das Versprechen auf ein besseres Leben für alle Venezolaner hat sich trotz milliardenschwerer Sozialprogramme unter der Präsidentschaft von Hugo Chávez und seinem Nachfolger Nicolás Maduro nicht erfüllt.

Klima der Misswirtschaft, Veruntreuung und Ineffizienz

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Die Gründe für das Scheitern sind sicherlich vielfältig. Vorrangig sind sie jedoch auf ein Klima der Misswirtschaft, Veruntreuung und Ineffizienz zurückzuführen. Die Armutsrate hat sich in den letzten drei Jahren von 30 auf 60 Prozent verdoppelt. Die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) prognostizierte Inflationsrate beträgt bis Ende diesen Jahres 700 Prozent - im Folgejahr 2.200 Prozent. Grundlegende Güter sind für viele Venezolaner nicht mehr erschwinglich. Die staatlichen Banken sind pleite und die Staatskassen leer. Mit steigender Tendenz werden in weiten Teilen des Landes Strom und Wasser rationiert. Hinzu kommen die Knappheit von Nahrungsmitteln und der Kollaps der öffentlichen Gesundheitsversorgung.

Und auch politisch erlebt Venezuela überaus stürmische Zeiten. Bereits vor der letzten Parlamentswahl im Dezember 2015 war die venezolanische Gesellschaft tief in zwei Lager gespalten. Das Ergebnis der Parlamentswahlen im vergangenen Jahr hat nun zu einer politischen Patt-Situation geführt. Nach einer historischen Wahlniederlage rief Staatspräsident Maduro im Januar dieses Jahres den Wirtschaftsnotstand aus und verlängerten diesen Notstand bereits zum vierten Mal. Seitdem regiert die Regierung Maduros in wichtigen Fragen mit Sondervollmachten am Parlament vorbei.

Opposition forciert Abwahl von Präsident Maduro

Für zusätzliche Spannungen zwischen der Regierung und der Opposition Mesa de la Unidad Democrática (MUD), die aus unterschiedlichen politischen Parteien und Organisationen besteht, sorgt die Forcierung eines Abwahlreferendums, welches das vorzeitige Ende der Präsidentschaft Maduros, Neuwahlen und einen Regimewechsel in Venezuela einläuten soll. Allerdings hat die Bekanntgabe der nationalen Wahlbehörde, dass ein solches Referendum erst im Laufe des ersten Quartals 2017 stattfinden könnte, diesem Ansinnen vorerst einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die starke politische Polarisierung zweier politischer Lager hat in Venezuela eine lange geschichtliche Tradition. Auch aktuell steuern die beiden politischen Lager ungebremst aufeinander zu. Dabei hat es an Initiativen, um die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Lähmung des Landes zu überwinden, bislang nicht gemangelt. Die jüngste Initiative der vier Ex-Präsidenten Ernesto Samper (Kolumbien), José Luis Rodríguez Zapatero (Spanien), Leonel Fernández (Dominikanische Republik) und Martín Torrijos (Panama) versucht zwar die politische Lähmung des Landes zu überwinden und die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu bewegen. Doch ebenso wie die päpstlichen Ermahnungen, sich zusammenzuraufen und gemeinsam einen Weg des Friedens zu beschreiten, haben diese Bemühungen bislang wenig gefruchtet.

Gemeinsamer Verhandlungstisch als einziger Weg

Trotzdem bleibt der gemeinsame Verhandlungstisch der einzige Weg, um Venezuela nachhaltig zu helfen und die politische Spaltung des Landes zu überwinden. Daher müssen beide Seiten auch bereit für Gesten der Entspannung sein und gegenseitige Kompromissbereitschaft signalisieren. Nur über den Dialog und die Kompromissbereitschaft wird eine zwingend notwendige nationale Versöhnung zum Wohle der Bevölkerung möglich sein. Dabei ist die Eindämmung der gefährlichen Eskalation der politischen Spannungen im Land und ein Minimum an politischer Stabilität die Voraussetzung, um langfristig eine Normalisierung des Konfliktes sowie die „nationale Versöhnung“ zu erreichen. Die katholische Kirche wäre eine potentielle Institution, um als „ehrlicher Makler“ die Polarisierung im Lande aufzubrechen und die Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen. Die Freilassung der rund 2.000 Personen wie Leopoldo López, Antonio Ledezma und Daniel Ceballos, die aus politischen Gründen inhaftiert worden sind, wäre ein wichtiges Signal, um Verhandlungsgespräche aufzunehmen und den Pfad der nationalen Versöhnung einzuschlagen.

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Neben der politischen Aussöhnung der politischen Konfliktparteien sind in Venezuela aber auch insbesondere ökonomische Anpassungen zwingend erforderlich. Die wirtschaftlichen Probleme sind aktuell allerdings zu groß, um sie kurzfristig zu lösen. Die Wiederherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Produkten des täglichen Bedarfs sowie die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung sind zunächst die dringlichsten Herausforderungen. Mittel- bis langfristig muss sich Venezuela allerdings endlich von der strukturellen Abhängigkeit der Erdöleinnahmen lösen. In den letzten drei Jahren sind die Kosten für die Subventionierung bestimmter Güter wie z. B. Benzin stark gestiegen, ohne jedoch wirklich den armen Bevölkerungsgruppen zu Gute zu kommen. Der Benzinpreis muss daher auch im Inland an einen realistischen Wert angepasst und staatliche Importe müssen zugunsten der nationalen Produktion ausgerichtet werden. Zudem können die Verteidigungsausgaben zu Gunsten von Gesundheit und Sicherheit reduziert werden.

Wie in vielen anderen Ländern in Lateinamerika sind auch in Venezuela die soziale Spaltung der Gesellschaft, die schweren sozialen Probleme und der Gegensatz einer traditionell reichen Oberschicht und einer verarmten Bevölkerungsmehrheit eine der Hauptursachen für die politischen Verwerfungen im Land. Die alten politischen Eliten, die das Land über viele Jahrzehnte im 20. Jahrhundert geführt haben, waren in den 90er-Jahren so stark in Misskredit geraten, dass sich eine Bevölkerungsmehrheit hinter Hugo Chávez und seiner politischen Bewegung sammelte. In gleicher Weise ist nun allerdings auch der propagierte „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ gescheitert. Die Hoffnung auf einen Neuanfang in Venezuela wird daher nur über den Dialog und die Kompromissbereitschaft beider Seiten möglich sein.

Von Peter Weiß MdB, Sprecher für Nachhaltige Entwicklung und globale Verantwortung des ZdK

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