„In den Gesichtern habe ich diesen Schmerz gesehen“

„In den Gesichtern habe ich diesen Schmerz gesehen“

Flucht und Asyl ‐ Hamburgs Erzbischof Stefan Heße hat auf Sizilien mit traumatisierten Flüchtlingen aus Afrika gesprochen und kirchliche Hilfsprojekte besucht. Im Interview mit katholisch.de klagt der deutsche Flüchtlingsbischof über verschlossene Türen und die EU-Flüchtlingspolitik.

Erstellt: 08.09.2017
Aktualisiert: 26.07.2022
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Hamburgs Erzbischof Stefan Heße hat auf Sizilien mit traumatisierten Flüchtlingen aus Afrika gesprochen und kirchliche Hilfsprojekte besucht. Im Interview mit katholisch.de klagt der deutsche Flüchtlingsbischof über verschlossene Türen und die EU-Flüchtlingspolitik.

Frage: Herr Erzbischof, Sie waren in den vergangenen drei Tagen auf Sizilien. Die Insel ist für Flüchtlinge die Tür nach Europa. Haben Sie sie als eine offene Tür erlebt?

Heße: Nein, als wirklich offen habe ich sie nicht empfunden. Wir alle wissen, dass die Zahl der ankommenden Flüchtlinge aktuell rapide sinkt. Bei unserem Besuch in einem Registrierungszentrum, einem sogenannten Hotspot, im Süden Siziliens war die Halle bis auf etwa 60 Flüchtlinge gähnend leer. Dass nur noch so wenige Menschen den Weg über das Mittelmeer nach Europa finden, macht mir große Sorgen.

Frage: Woran liegt es, dass der Flüchtlingsstrom versiegt?

Heße: In Libyen wird anders, härter vorgegangen als zuvor, so dass viele Flüchtlinge das Land gar nicht mehr verlassen können. Auch die Küstenwache – sowohl auf europäischer als auch auf italienischer Ebene – hat Ihre Strategie verändert. Zu guter Letzt haben einige nicht-staatliche Hilfsorganisationen, die bisher Flüchtlinge gerettet haben, auf diese aktuellen Entwicklungen reagiert und als Konsequenz ihren Einsatz im Mittelmeer abgebrochen.

„Mit den Machthabern in Libyen in vollem Umfang zu kooperieren, ist keine Option.“

—  Zitat: Stefan Heße, Flüchtlingsbischof, über die Politik der EU.

Frage: Die EU hat bestätigt, mittlerweile mit der libyschen Küstenwache zusammenzuarbeiten, indem sie beispielsweise das Personal schult. Und das, obwohl in Libyen schwere Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Passt das mit den europäischen Werten zusammen?

Heße: Die Verhältnisse in Libyen sind auf jeden Fall besorgniserregend. Mit den Machthabern dort in vollem Umfang zu kooperieren, ist keine Option. Ob es umgekehrt allerdings sinnvoll wäre, jeglichen Kontakt abzubrechen, wage ich ebenfalls zu bezweifeln. Die EU muss sehr kritisch prüfen, inwieweit sie diesem Regime entgegenkommen kann, um eine Logistik zu schaffen, die den Flüchtlingen dient.

Frage: Sie haben auf Sizilien auch die Überreste eines „Bootsfriedhofs“ besucht. Was ging ihnen durch den Kopf, wenn man bedenkt, dass auf einem der Boote wahrscheinlich auch Flüchtlinge gestorben sind?

Heße: Es hat mich sehr berührt, direkt vor einem Boot zu stehen, mit dem Menschen versucht haben, über das Meer zu gelangen – aber sie sind nicht am Ziel angekommen. Planken und morsche Bootsteile erinnern mich daran, dass zu viele Menschen ihr Leben auf dem Meer verloren haben. Jeder einzelne von ihnen hatte seine persönlichen Hoffnungen und Ängste. Auch diejenigen, die das Meer überlebt haben, werden diese traumatische Überfahrt ihr Leben lang nicht vergessen. In vielen Gesichtern habe ich diesen Schmerz gesehen.

Bild: © Jörn Neumann/DBK

„Wir sind eine Weltkirche und haben daher den Auftrag, zu globalen Lösungen beizutragen.“

—  Zitat: Stefan Heße, Erzbischof von Hamburg.

Frage: In Bezug auf die Flüchtlinge bestimmen aktuell Libyen, das Mittelmeer und die Hotspots die Medien. Hier in Italien fangen aber viele Probleme erst danach an …

Heße: Das stimmt. In den Hotspots sollen die Flüchtlinge in der Regel nur 72 Stunden bleiben. Danach geht es für sie weiter in die größtenteils überlasteten Aufnahmeeinrichtungen. Wir haben eine Unterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge besucht und dabei erfahren, dass der Staat seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Gelder werden verzögert ausgezahlt, die Arbeitsbedingungen sind schwierig. Wenn die Leute dort nicht so viel Herzblut für die Jugendlichen aufbringen würden, sähe es schlecht aus. Ich habe den Eindruck, dass der italienische Staat an seine Kapazitätsgrenzen kommt.

Frage: Die Jugendlichen haben sich in dieser Einrichtung der Salesianer Don Boscos allerdings sehr wohlgefühlt …

Heße: Das Projekt hat mich auch sehr beeindruckt. Vor allem, weil die jungen Menschen sich – anders als in vielen anonymen Aufnahmelagern – direkt in einem sozialen Kontext befinden. Einer der Flüchtlinge hat mir gesagt: „Da, wo ich herkomme, hatte ich keine Eltern mehr, aber die Betreuer hier sind für mich wie Vater und Mutter.“ Durch so ein Umfeld wird viel für die Integration der Flüchtlinge getan. Denn zur Integration gehört mehr als das Erlernen der Sprache. Es heißt auch, am Leben teilzuhaben, angenommen zu sein und sich wohlzufühlen. Kurzum: Es heißt, eine neue Heimat zu finden.

Frage: Wie war ihr persönlicher Eindruck von den Flüchtlingen selbst?

Heße: Ich habe junge Leute erlebt, die froh waren, dass sie jetzt erst einmal in Sicherheit und in geregelten sozialen Verhältnissen leben. Sie wollen die Sprache lernen und schulisch weiterkommen. Viele haben bereits gut Italienisch gesprochen und die Hoffnung, beruflich irgendwann einmal in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen. Und sie hoffen natürlich, bald einen entsprechenden Anerkennungsstatus zu erhalten, der ihnen noch mehr Sicherheit gibt.

Bild: © Jörn Neumann/DBK

Frage: Sie haben auf Sizilien auch Kardinal Francesco Montenegro getroffen, zu dessen Erzdiözese die Insel Lampedusa gehört. Was haben Sie mit Ihm besprochen?

Heße: Der Kardinal ist ja eine Symbolfigur für den Flüchtlingseinsatz der Kirche. Er hat dafür plädiert, europa- und weltweit die Bemühungen der katholischen Kirche für die Flüchtlinge noch einmal zu verstärken. Ich kann ihm da nur zustimmen. Wir sind eine Weltkirche und haben daher den Auftrag, zu globalen Lösungen beizutragen. Dass das nicht einfach ist, weiß der Kardinal auch. Wir müssen um Verständnis ringen und Argumente klar kommunizieren.

Frage: Die Flüchtlingspolitik ist in ganz Europa weiterhin ein Thema – auch im Wahlkampf. Bald stehen etwa in Deutschland die Bundestagswahlen an. Was sagen Sie den Politikern und was den Bürgern nach Ihrem Besuch auf Sizilien?

Heße: Ich sage ihnen: Wer die Augen vor dem Thema Flucht und Migration verschließt, der verschließt sie auch vor der Wirklichkeit. Ich rate daher dringend dazu, das nicht zu tun. Politiker in Deutschland sollen aus einem christlichen Geist heraus ohne Scheuklappen zuerst den Menschen und nicht nur die potenzielle Wirtschaftskraft sehen. Wir brauchen vor dem Fremden und Neuen keine Angst zu haben. Gerade unsere alternde Gesellschaft in Europa kann in Zukunft definitiv von den Flüchtlingen profitieren. Dabei ist mir klar: Integration ist nichts Einfaches. Es ist ein langer und schwieriger Prozess.

Von Björn Odendahl

© weltkirche.katholisch.de/bod