„Die Kinder haben die meiste Widerstandskraft“

„Die Kinder haben die meiste Widerstandskraft“

Ordensgemeinschaften ‐ Trotz der verschärften Lage im syrischen Ost-Ghouta setzt der Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) in Damaskus seine Arbeit fort. Zwar bleiben die JRS-Zentren geschlossen, um die Sicherheit der Kinder und des Personals nicht zu gefährden. Das Kernteam und die Büromitarbeiter des Landes arbeiten aber von zu Hause aus weiter. Nawras Sammour SJ, Leiter des JRS im Nahen Osten, berichtet im Interview von der aktuellen Lage vor Ort, die für die Syrer immer unübersichtlicher wird.

Erstellt: 19.03.2018
Aktualisiert: 19.03.2018
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Trotz der verschärften Lage im syrischen Ost-Ghouta setzt der Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) in Damaskus seine Arbeit fort. Zwar bleiben die JRS-Zentren geschlossen, um die Sicherheit der Kinder und des Personals nicht zu gefährden. Das Kernteam und die Büromitarbeiter des Landes arbeiten aber von zu Hause aus weiter. Nawras Sammour SJ, Leiter des JRS im Nahen Osten, berichtet im Interview von der aktuellen Lage vor Ort, die für die Syrer immer unübersichtlicher wird.

Frage: Pater Sammour, Sie haben die Arbeit des JRS aufgrund der Kämpfe in Damaskus unterbrochen. Was bekommen Sie von der aktuellen Situation in Damaskus mit?

Pater Sammour: Bis 2015 war es ja ruhig in Damaskus. Wir wissen nicht warum, aber seit Jahresbeginn ist die Gewalt um Damaskus eskaliert. Raketen und Mörser fliegen auf die Stadt. Es ist völlig unvorhersehbar, wo sie abfallen. Es kann jederzeit jeden treffen. Die ganze Stadt ist betroffen. Das hat uns gezwungen, unsere Arbeit zu unterbrechen. Nicht nur die christlichen Viertel sind betroffen. Aber sie liegen im Ostteil der Stadt und werden durch die Kämpfe um Ost-Ghouta häufiger getroffen. Viele Menschen verloren das Leben oder wurden verletzt – auch Mitarbeiter vom JRS. Durch die Militäroperationen haben viele unschuldige Menschen ihr Leben verloren. Die Unschuldigen zahlen den höchsten Preis.

Frage: Hat der JRS auch aktuell noch seine Arbeit ausgesetzt?

Pater Sammour: Momentan wird in Damaskus nur die administrative Arbeit erledigt. Diese erledigen unsere Mitarbeiter meistens von zuhause aus, damit sie nicht gezwungen sind, auf die Straße zu gehen. Jene, die in der Nähe des Büros wohnen, kommen auch ins Büro. Aber unsere Aktivitäten mit den Frauen, Kindern und kranken Menschen mussten wir unterbrechen. Immer wieder mal haben wir versucht, die Arbeit wieder aufzunehmen, aber jedes Mal, wenn wir wieder angefangen haben, ist die Gewalt wieder eskaliert. Das zwingt uns dazu, den Leuten zu sagen, dass sie zuhause bleiben sollen.

Frage: Wie sehen die Aktivitäten des JRS in Damaskus normalerweise aus, insbesondere mit den Kindern?

Pater Sammour: Wir arbeiten mit Kindern, die bei uns grundlegende Dinge lernen: Lesen, Schreiben, Rechnen. Wir unterrichten auch Jugendliche, die nicht die Möglichkeit haben, die Schule zu besuchen. Wir arbeiten nicht im großen Klassenzimmer, sondern in kleinen Gruppen mit Animateuren. Dazu gehören dann auch künstlerische Aktivitäten, Sport und Musik. Aufgrund der Kämpfe in Damaskus sind zurzeit an die 500 Kinder von unserer Arbeit abgeschnitten. Wir hoffen, dass wir unsere Arbeit bald wieder aufnehmen können, wenn der Frieden zurückkehrt.

Bild: © Jesuitenmission

„Die Kinder haben eine unglaubliche Gabe, sich anzupassen.“

—  Zitat: Nawras Sammour, Leiter des JRS Nahost

Frage: Wie geben Sie den Kindern im Krieg ein wenig Normalität zurück?

Pater Sammour: Wir bieten den Kindern nicht nur Hilfe, sondern auch einen sicheren Ort. Der Unterricht ist nicht das Wichtigste, sondern wir müssen die Kinder begleiten, ihnen eine umfassende Bildung gewährleisten. Wenn wir sie bitten, zuhause zu bleiben, weil es zu gefährlich ist, sind sie traurig – normalerweise gehen Kinder ja nicht gern zur Schule. Aber die Kinder kommen sehr gerne zu uns, weil es eben keine klassische Schule ist. Sie fühlen sich bei uns zuhause. Wir geben ihnen auch leichtes Essen, einen Tee, Obst oder Gemüse, eine kleine Mahlzeit. Für manche ist es die einzige Mahlzeit des Tages. Unser Zentrum ist nicht einfach ein Hilfs- oder Schulzentrum, sondern alles zusammen. Wir versuchen, den Kindern ein einigermaßen normales Leben zu bieten. Und ich stelle fest, dass sie oft widerstandsfähiger sind als die Erwachsenen. Die Kinder sind wunderbar, sie haben eine unglaubliche Gabe, sich anzupassen.

Frage: Gleichzeitig sind die Kinder sehr traumatisiert durch den Krieg.

Pater Sammour: Ich sage nicht, dass die Kinder nicht betroffen sind. Aber wenn wir von einer Fähigkeit der Anpassung sprechen, sind die Kinder jene, die sich am meisten und schnellsten anpassen. Ohne Zweifel haben die Kinder auch Probleme, zeigen Verhaltensauffälligkeiten. Jeder leidet unter diesem Krieg. Wenn die Kinder zu uns kommen, zeigen sie sich unbefangener als zuhause, denn dort leben sie zum Teil auf engem Raum, mit vielen Geschwistern, viel Stress. Beim JRS haben sie vielleicht mehr Raum für sich.

Frage: Geben die Kinder den Erwachsenen Hoffnung?

Pater Sammour: Das hoffe ich, denn die Syrer haben zurzeit nur Perspektivlosigkeit, das Gefühl, keine Zukunft zu haben.

Bild: © Jesuitenmission

Frage: Sie sind Jesuit und ich möchte Sie fragen, wie Sie ihren Glauben bewahren angesichts der Grausamkeiten und der scheinbaren Endlosigkeit dieses Krieges?

Pater Sammour: Ich war noch nie an dem Punkt, dass ich den Glauben an Gott verloren hätte und ich hoffe, dass ich dort auch nie hinkomme. Aber Fragen, Zweifel, die gibt es natürlich. Die hatte ich schon und die können jeden Moment kommen: Zweifel am Guten und seiner Fähigkeit, das Böse zu besiegen. Diese Zweifel gehören zu dieser leidvollen Erfahrung des Krieges dazu – aber auch zur Schönheit unseres Menschseins. Menschen sind in der Lage, diese Fragen zu stellen. Das zeigt uns, dass wir vernünftige Wesen sind. Leider haben die Menschen im Krieg diese schönste menschliche Fähigkeit der Vernunft, des Nachdenkens, verloren. In dieser schwierigen Situation versuche ich, Verbindung zu vielen religiösen Partnern zu halten, zu Priestern, Laien, Frauen und Männern. Jene, die in diesem Krieg kämpfen, verlieren diese Schönheit der Vernunft. Der Krieg ist der Tod der Vernunft. In Bezug auf Gott darf man Zweifel haben und Fragen stellen, aber gleichzeitig sollte man diese Fragen an die Fähigkeiten und die Schönheit des Menschen stellen. Zweifel gibt es an der Schönheit des Menschen, an dem Guten in den Menschen und der Fähigkeit, das Böse zu besiegen.

Frage: Haben Sie Hoffnung, dass dieser Krieg bald endet?

Pater Sammour: Überhaupt nicht, da bin ich ganz und gar pessimistisch. Die Situation ist so komplex und kompliziert und wird immer komplizierter. Es ist ein Chaos. Es ist ja nicht nur ein Bürgerkrieg unter den Syrern, sondern es kommen auch viele Menschen aus dem Ausland, um an dieser komplett irrationalen und absurden „Maskerade“ mitzuwirken. Es ist keine Revolution, es ist kein Religionskrieg, es ist alles zusammen, auf unverständliche Weise miteinander vermengt. Es ist Chaos.

„Der Krieg ist der Tod der Vernunft.“

—  Zitat: Nawras Sammour, Leiter des JRS Nahost

Frage: Was erwarten Sie von den Europäern angesichts dieses Chaos?

Pater Sammour: Europa bleibt sehr wichtig für Syrien, es darf nicht weich werden und sich dem Willen Russlands oder der USA unterwerfen. Vor allem Länder wie Deutschland, Frankreich und England, auch wenn es vielleicht nicht mehr zur EU gehören wird. Diese Länder haben eine so glorreiche Geschichte der Aufklärung und gleichzeitig eine leidvolle der Kriege. Diese Geschichte erlaubt es ihnen nicht, dass sich das wiederholt und man sich all die Jahre gleichgültig zeigt gegenüber dem Syrienkrieg. Ich verstehe es einfach nicht. Denn Europa wird den höchsten Preis dafür zahlen. Vor allem die reichsten Länder Europas zahlen am meisten Geld, um uns zu unterstützen, humanitäre Hilfe und natürlich auch bei der Aufnahme der Flüchtlinge. Die Flüchtlinge können ja schlecht mal eben nach Kanada, Australien oder in die USA fliehen. Sie stehen vor den Toren Europas oder sind schon dort. Europa zahlt da einen hohen Preis. Europa muss eine Lösung finden, damit die Menschen in Würde dort leben können, wo sie herkommen. Daran sollte Europa arbeiten und nicht nur Waffen produzieren oder versuchen, Probleme mit Militäreinsätzen zu lösen. Der Krieg führt zu nichts.

Das Interview führte Claudia Zeisel

© weltkirche.katholisch.de