„Kein Luxus für bessere Zeiten“

„Kein Luxus für bessere Zeiten“

Ethik ‐ Die Auswirkungen der Corona-Krise müssen nicht zwangsläufig zu einer desolaten Entwicklung führen, sagt der Münchner Sozialethiker Markus Vogt im Interview.

Erstellt: 09.05.2020
Aktualisiert: 22.07.2022
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Die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise sind jetzt schon massiv. Allerdings müssen katastrophale Bedingungen nicht zwangsläufig zu einer desolaten Entwicklung führen, sagt der Münchner Sozialethiker Markus Vogt. Er ist auch Mitglied des Lenkungskreises der Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030, die die Nachhaltigkeitspolitik der Bundesregierung begleitet. Im Interview spricht er über mögliche Chancen der Krise.

Frage: Herr Professor Vogt, hat der weltweite Lockdown auch positive Auswirkungen?

Vogt: Jede Krise hat zwei Seiten. Viele Menschen leiden momentan existenziell: durch wirtschaftliche Einbußen, Arbeitslosigkeit oder Einsamkeit. Diese Sorgen darf man nicht beschönigen. Aber ja, daneben zeichnen sich auch positive Aspekte ab. Entschleunigung gehört dazu, weniger unterwegs zu sein, für Familien vielleicht das Zusammensein. Gesellschaftlich betrachtet, ist es eine enorme Leistung, dass sich die Menschen weitgehend mit hoher Freiwilligkeit so radikal eingeschränkt haben - und auf diese Weise kollektiv politisch handeln.

Frage: Inzwischen wünschen sich jedoch viele eine Rückkehr zur Normalität. Lassen sich diese positiven Auswirkungen dennoch langfristig erhalten?

Vogt: Da ist zu unterscheiden: Nicht alle Maßnahmen können und sollen verlängert werden. Nach dem Ausnahmezustand werden die Menschen sicher wieder mehr fliegen, um ein Beispiel zu nennen. Entscheidend ist, dass es nicht darum geht, in den früheren Zustand zurückzukehren. Vielmehr sollten wir den Umbruch als Aufbruch in eine resiliente, also krisenrobuste Gesellschaft nutzen.

Frage: Wie könnte das aussehen?

Vogt: Für die Konjunkturprogramme, die momentan geplant werden, braucht es auch ökologisch-soziale Kriterien. Wir haben gelernt, dass eine radikale Transformation erstaunlich breit und gut funktionieren kann. Dies sollten wir für neue Ziele nutzen: nicht einfach eine Rückkehr ins „business as usual“, sondern nach Wegen suchen, die langfristig sinnvoll sind.

Frage: Umgekehrt könnten die aktuellen Maßnahmen auch Probleme in punkto Nachhaltigkeit mit sich bringen - etwa eine geringere Akzeptanz für öffentlichen Nahverkehr.

Vogt: Verteilungskonflikte könnten in der Tat härter werden. In den letzten Jahren wurde viel dafür gestritten, den ÖPNV günstiger zu machen - aktuell sagen wieder mehr Leute, dass sie so viel Nähe nicht riskieren wollen und lieber mit dem Auto fahren. Da wird es nicht leicht werden, das vorherige Niveau der Debatte zu erreichen. Das gilt auch für den „Green Deal“ der EU-Staaten, die sich darauf verständigt haben, Investitionen an ökologische Kriterien binden.

Frage: Aus Ländern wie Kolumbien ist zu hören, dass der Lockdown ausgenutzt wird, um indigene Gruppen noch weiter zu verdrängen. Wie bewerten Sie dies?

Vogt: Die globale Perspektive sollten wir nicht aus den Augen verlieren. Das betrifft insbesondere Länder im globalen Süden, deren Gesundheitssysteme viel weniger robust sind. Dort sind die hygienischen Bedingungen oftmals schwer einzuhalten, und durch massive Arbeitslosigkeit drohen Wirtschaftsstrukturen völlig zusammenzubrechen, Menschen einfach zu verhungern. Die Regierungen der betroffenen Länder sind oftmals schwach. Indirekt wird es durch die Corona-Krise also vermutlich eine Vielzahl von Toten geben. Da braucht es ein neues Maß an globaler Solidarität. Wir dürfen keine Verteilungskämpfe um Masken und Schutzkleidung abhalten.

Frage: Ist nicht eher zu vermuten, dass viele denken werden: Nach langem Verzicht habe ich mir nun etwa eine Fernreise redlich verdient?

Vogt: Ich vermute, dass da die Einschränkungen noch lange währen werden. Gerade haben wir das erste Eskalationsrisiko einigermaßen bewältigt, aber die Infektionsgefahr ist nicht aus der Welt. Die Neigung zu nachholenden Fernreisen wird es sicher dennoch geben. Aber ich bin zuversichtlich, dass viele Menschen momentan ein Bewusstsein dafür entwickeln, was wirklich wichtig ist. Gerade der Tourismus hatte zuletzt eine Dimension angenommen, die schon fast an ein Fluchtverhalten erinnern. Nun ließe sich entdecken, dass Urlaub im eigenen Land, in der Nähe auch attraktiv sein kann - gerade im kommenden Sommer.

Frage: Wie kann man zu einer solchen Solidarität kommen?

Vogt: In der Krise hat sich gezeigt, wie wichtig Solidarität ist. Die Vereinten Nationen müssten insbesondere für den Gesundheits- und Klimaschutz mit mehr Finanzmitteln und institutioneller Macht ausgestattet werden, um Dinge nicht nur zu beschließen, sondern auch durchzusetzen. In der zweiten Jahreshälfte hat Deutschland mit der EU-Ratspräsidentschaft die Chance, einiges in Gang zu setzen. Nachhaltigkeit ist kein Luxus für bessere Zeiten, in denen wir uns auf faire Ziele einigen, die dann in einer Krise aufgeschoben werden. Sie sollte vielmehr die konzeptionelle Antwort auf Krisen sein. Dafür braucht es Staaten, transnationale Gremien wie die EU und die UNO, aber auch starke Zivilgesellschaften und eine eigene Verantwortung der Wirtschaft.

Frage: Welche Rolle könnten Kirchen und Religionsgemeinschaften dabei spielen?

Vogt: Im Kampf für globale Gerechtigkeit und Klimaschutz haben sie Rückenwind durch die Enzyklika „Laudato si“ von Papst Franziskus, die weltweit und über den binnenkirchlichen Raum hinaus intensiv wahrgenommen wird. Darin geht es um die Krisenanfälligkeit unseres Gesellschaftssystems. Der Papst fordert einen Wandel des Lebensstils, ein anderes Gesellschaftsmodell. Wenn wir wirklich nachhaltig und damit auch krisenrobuster sein wollen, dann ist Wachstum nicht alles. Dann braucht es die Stärke und die Potenziale vor Ort, etwa eine eher lokale, regionale Wirtschaft, und auch ein neues Verständnis von Natur.

Frage: Wie meinen Sie das?

Vogt: Die Corona-Krise hat gezeigt, wie fragil unser modernes Wirtschaftssystem ist. Ein kleines Virus kann all unsere Sicherheiten ins Wanken bringen. Auf neue Weise Demut, Verzichtbereitschaft und sozialen Zusammenhalt zu lernen, wäre eine tiefgehende kulturelle Aufgabe, zu der die Kirchen viel zu sagen hätten. Wenn der christliche Glaube sich als Kraft der Resilienz in Krisenzeiten einbringt, kann er auf neue Weise lebendig werden.

Das Interview führte Paula Konersmann (KNA)

© Text: KNA