Nicht die Augen vor Elend an EU-Außengrenzen verschließen
Flucht und Asyl ‐ Wie blickt die katholische Kirche in Deutschland auf den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten? Im Interview fordert der Hamburger Erzbischof Stefan Heße, Flüchtlingsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz, die Augen nicht vor Elend an EU-Außengrenzen zu verschließen.
Aktualisiert: 26.01.2021
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Regelmäßig retten Schiffe im Mittelmeer Flüchtlinge aus Seenot - und suchen anschließend tagelang einen sicheren Anlaufhafen. An Europas Außengrenzen von den Kanarischen Inseln bis nach Griechenland spielen sich Tag für Tag menschliche Dramen ab - während sich Politiker aus der EU ein zähes Ringen um Aufnahmequoten liefern. Wie blickt die katholische Kirche in Deutschland auf den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten? Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) fragt nach beim Hamburger Erzbischof Stefan Heße. Der 54-Jährige ist seit 2015 Flüchtlingsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz.
Frage: Herr Erzbischof, in Bosnien-Herzegowina werden Flüchtlinge aus Afghanistan, Pakistan und anderen Ländern unter menschenunwürdigen Zuständen festgehalten. Müssten diese Menschen nicht wenigstens in die EU aufgenommen werden?
Heße: Die Bilder der Schutzsuchenden aus Lipa sind erschütternd. In Sichtweite zu einem EU-Mitgliedstaat campieren Menschen bei eisigen Temperaturen im Freien und drohen zu erfrieren. Der Vorsitzende der Bosnischen Bischofskonferenz hat es auf den Punkt gebracht: Es handelt sich um eine humanitäre Katastrophe, die es so schnell wie möglich mit internationaler Hilfe zu lösen gilt.
Frage: Wie kann das gelingen?
Heße: Die bosnische Regierung muss die grundlegenden Standards für die Unterbringung von Schutzsuchenden wiederherstellen. Und auch die Europäische Union ist gefordert, zu einer raschen Überwindung dieser lebensbedrohlichen Notlage beizutragen. Dazu gehört zum einen materielle und finanzielle Unterstützung, zum anderen aber auch die Bereitschaft, besonders vulnerable Schutzsuchende aus Bosnien-Herzegowina aufzunehmen. Vor dem Elend an der EU-Außengrenze die Augen zu verschließen oder gar auf einen abschreckenden Effekt zu spekulieren, ist jedenfalls keine verantwortbare Option.
Frage: Nicht nur auf dem Balkan, auch in Griechenland und auf den Kanarischen Inseln offenbart sich, dass die EU weiterhin unfähig ist, sich auf eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik zu verständigen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach – und wie ließe sich das ändern?
Heße: Solange manche Länder sich der Aufnahme von Flüchtlingen kategorisch verweigern, ist es schwer, unter den 27 EU-Mitgliedstaaten eine gemeinsame Linie zu finden. Wir sollten uns von der Blockadehaltung einzelner Staaten allerdings nicht entmutigen oder lähmen lassen.
Frage: Sondern?
Heße: Die Geschichte der Europäischen Union zeigt, dass es sich lohnt, auf Humanität und Solidarität zu setzen. All jene Staaten, die bereit sind, ihrer Verantwortung für Schutzsuchende gerecht zu werden, sollten mit gutem Beispiel vorangehen. Trotz mancher Widerstände bin ich zuversichtlich, dass die große Mehrheit der EU-Staaten letztlich bereit sein wird, an einer fairen Verantwortungsteilung mitzuwirken.
Frage: Mit der „Sea-Watch 4“ liegt ein auch von Kirchen bzw. einzelnen Kirchenvertretern unterstütztes Rettungsboot seit 23. Dezember im Hafen von Palermo fest. Anderen Schiffen ergeht es ähnlich, der Europäische Gerichtshof soll über solche Fälle verhandeln. Wie blicken Sie auf diese Vorgänge?
Heße: Laut dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen sind seit 2014 über 20.000 Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, umgekommen. Auch dieser Tage sind wieder Schutzsuchende ertrunken. Das Mittelmeer ist eine der tödlichsten Fluchtrouten weltweit.
Frage: Was folgt daraus für Schiffe wie die „Sea-Watch 4“?
Heße: Solange die Staaten Europas keine wirksame Seenotrettung im Mittelmeer gewährleisten, bleiben die Aktivitäten ziviler Seenotretter unverzichtbar. Sicherlich stellt die Seenotrettung keine langfristige politische Lösung dar. Aber das ist auch gar nicht ihr Anspruch. Stattdessen geht es den Seenotrettern darum, schutzsuchende Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren. Ohne ihr Engagement wäre die Zahl der Toten um ein Vielfaches höher.
Frage: Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf den Umgang mit Migranten und den Schutz von Flüchtlingen?
Heße: Die Pandemie trifft Flüchtlinge und Migranten mit voller Härte. Ich denke etwa an die Sorge vor Infektionsausbrüchen in größeren Gemeinschaftsunterkünften, an neue Hürden bei der Asylverfahrens- und Sozialberatung, an die massive Beeinträchtigung bisheriger Integrationserfolge oder an die negativen Folgen für den Zugang zu Schutz in Europa. Denn mit der Einschränkung von Mobilität wird die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, in Mitleidenschaft gezogen.
Frage: Wie schaut es beim Thema Reisebeschränkungen aus?
Heße: Die führen dazu, dass Familienzusammenführungen nicht stattfinden können und Resettlement-Verfahren auf Eis liegen. Dies betrifft auch das staatlich-zivilgesellschaftliche Aufnahmeprogramm „Neustart im Team“, für das wir uns als Kirche starkmachen. Faktisch gibt es derzeit also kaum sichere Zugangswege – und das in Zeiten, in denen die Situation der Schutzsuchenden in den Erstaufnahmestaaten nicht besser, sondern schlechter geworden ist.
Frage: Was ging Ihnen durch den Kopf, als der christdemokratische Politiker Friedrich Merz jüngst die Aufnahme von Flüchtlingen aus Bosnien und Griechenland ablehnte?
Heße: Es ist nicht meine Aufgabe, die Statements einzelner Politiker zu kommentieren. Wichtig erscheint mir: Die Europäische Union muss alles in ihrer Macht Stehende tun, um die humanitäre Notlage an ihrer Außengrenze zu überwinden. Sonst drohen europäische Grundwerte zu Worthülsen zu werden.
Frage: Was sagen Sie Kritikern, die sich ein deutlicheres Eintreten der Kirchen für die Flüchtlinge wünschen?
Heße: Zunächst einmal ist eine solche Kritik durchaus willkommen. Denn sie wird von Menschen vorgebracht, die sich vom Geist der Mitmenschlichkeit leiten lassen und denen das Schicksal der Geflüchteten nicht gleichgültig ist.
Frage: Aber?
Heße: Der Fairness halber muss man allerdings auch sagen: Das kirchliche Engagement für schutzsuchende Menschen, das seit jeher zum christlichen Selbstverständnis gehört, wurde seit 2015 noch einmal deutlich intensiviert. So haben sich allein in der katholischen Kirche in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren über 100.000 Ehrenamtliche und mehr als 5.000 Hauptamtliche mit viel Herzblut und Beharrlichkeit für die Anliegen von Flüchtlingen eingesetzt. Ich bin überzeugt: Die lebendige Willkommenskultur und die zahlreichen Beispiele gelungener Integration in Deutschland verdanken sich auch dem starken Engagement von Christinnen und Christen.
Frage: Reicht das aus mit Blick auf die Situation in anderen Teilen der Welt?
Heße: Hinzu kommt der wichtige Beitrag, den unsere Hilfswerke weltweit zur Unterstützung der Schutzsuchenden in den Erstaufnahmestaaten leisten. Demnächst wird die Bischofskonferenz eine Broschüre herausgeben, mit der die kirchlichen Aktivitäten in der Flüchtlingshilfe zwischen 2015 und 2020 dokumentiert werden. Der Name der Publikation ist Programm: „an der Seite der Schutzsuchenden“. Diesem Auftrag wissen wir uns auch künftig verpflichtet.
Frage: Wie bewerten Sie die jüngsten Änderungen des Bamf zum Kirchenasyl?
Heße: Im Juni 2018 hat die Innenministerkonferenz beschlossen, in bestimmten Kirchenasylfällen die Frist, innerhalb derer ein Asylbewerber in einen anderen europäischen Staat überstellt werden kann, von sechs auf achtzehn Monaten zu erhöhen. Die Kirchen haben dies gerade auch in juristischer Hinsicht deutlich kritisiert. Mittlerweile hat das Bundesverwaltungsgericht die Fristerhöhung ebenfalls als problematisch bewertet. Es ist meines Erachtens ein ganz normaler Vorgang, dass das Bamf seine Praxis nun an die Rechtsprechung angepasst hat. Das Kirchenasyl dient dazu, im konkreten Einzelfall humanitäre Härten zu verhindern. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, bedarf es auch künftig eines guten Dialogs zwischen kirchlichen und staatlichen Stellen.
Von Joachim Heinz und Michael Althaus (KNA)
© Text: KNA