Nach Kanada rücken Indigenen-Internate in den USA in den Fokus
Washington D.C. ‐ In Kanada hat der Umgang mit indigenen Kindern an meist kirchlichen Internatsschulen zuletzt hohe Wellen geschlagen. Mit etwas Verzögerung beginnt die Debatte nun auch in den USA.
Aktualisiert: 31.01.2022
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Ein Grabstein auf dem St. Malachy Friedhof von Clontarf erinnert seit 1978 an 14 Jugendliche der Ureinwohner der Sioux und Chippewa, „die während ihrer Zeit an der Schule starben“. Mehr ist über das Schicksal der indigenen Schüler der „St. Paul Diocese Industrial School“ im US-Bundesstaat Minnesota nicht bekannt.
Der Direktor des „Swift County Historical Society and Museum“, Reverend Gary Mills, hat jedoch einen Verdacht. „Wir neigen dazu, unsere Geschichte weißzuwaschen“, sagt der Lutheraner über die Internatsschule, die zwischen 1877 und 1898 Indigene und Siedlerkinder unterrichtete. Mills und Vertreter der Ureinwohner möchten der wahren Geschichte auf den Grund gehen. Von den Todesursachen bis zur tatsächlichen Zahl der Opfer. „Das müssen wir aufarbeiten.“
Die „St. Paul Diocese Industrial School“ ist nur ein Beispiel aus mehr als 367 Internatsschulen, an denen mehr als 100.000 Kinder der Ureinwohner unterrichtet wurden. In den vergangenen Jahren entdeckten Aktivisten hunderte unmarkierte Gräber wie die in Clontarf.
Auf politischer Ebene setzt die zuständige Ministerin Deb Haaland, eine Nachfahrin amerikanischer Ureinwohner und die erste Indigene in der US-Regierung, ein Versprechen aus dem Wahlkampf um, die gewaltsame Christianisierung der Indigenen in der US-Geschichte offenzulegen.
Im Juni 2021 richtete sie eine Untersuchungskommission ein, die auch die Todesumstände hunderter Internatsschüler aufklären soll. Im November schlossen sich die beiden katholischen Bischöfe von Gallup in New Mexico und Oklahoma City, in denen viele Ureinwohner leben, der Forderung nach einer historischen Aufarbeitung an. In einem Schreiben riefen sie ihre Mitbrüder zur vollen Kooperation auf. Vor einigen Wochen trafen sich Vertreter von vier US-Bistümern in Minnesota, um die Rolle der Kirche bei den Internaten kritisch zu untersuchen.
Aus Kanada ist bekannt, dass konfessionell geführte Internate dort oft wie „Umerziehungslager“ geführt wurden. Die Regierung nahm Kinder ihren Eltern weg und schaute zur Seite, wenn diese in den Internaten misshandelt und ihrer kulturellen Identität beraubt wurden.
Ein Bischof verbot den Indigenen sogar ihre Sprache
In den benachbarten USA etablierte sich für die brutale Unterwerfung der zynische Begriff des „Social Engineering“. Als „Väter“ dieser Methode taten sich vor allem zwei Männer hervor: Hauptmann Richard Henry Pratt (1840-1924) gab die Losung aus: „Töte den Indianer und rette den Menschen“. Bischof Vital Justin Grandin (1829-1902) verbot den Indigenen vor allem ihre Sprache und entfremdete sie so ihren Familien.
Die kanadische Wahrheitskommission hatte bei dem Blick in die Vergangenheit zwischen 2008 und 2015 aufgedeckt, dass bei einem Drittel der Todesfälle Behörden wie Schulleitung auf den Namen des Kindes verzichteten, bei jedem zweiten verstorbenen Heranwachsenden fehlte die Todesursache in den Akten.
Allein in den 1930er- und 1940er-Jahren lag in Kanada die Kindersterblichkeit von Indigenen in Internaten um das Fünffache höher im Vergleich zu Nicht-Indigenen. Menschenunwürdige Bedingungen, Rassismus, sexueller Missbrauch und Gewalt gehörten zum Alltag.
Die katholische Kirche in Kanada hatte sich im September offiziell entschuldigt und Unterstützung angeboten. Eine Reise nach Rom von kanadischen Bischöfen zusammen mit Stammesältesten im Dezember musste kurzfristig wegen Corona verschoben werden. Ein Besuch des Papstes in diesem Jahr in Kanada ist geplant, aber noch nicht bestätigt. Die Häuptlinge fordern eine Entschuldigung auch von Franziskus.
Unterdessen steigt der Druck auf die katholische Kirche in den USA. Es sei dringend erforderlich, dass die Kirche Unterlagen freigebe, so Deborah Parker von den Tulalip Tribes. Sie steht an der Spitze jener, die das Kapitel der Internatsgeschichte der Indigenen aufarbeiten wollen.
Noch hinken die US-Bischöfe bei der Debatte um die Verantwortung für die damaligen Zustände an den Schulen ihrem nördlichen Nachbarn hinterher. Die geplante Kanada-Visite von Franziskus dürfte den nötigen Anreiz geben, der historischen Wahrheit nun ins Auge zu sehen.
Von Thomas Spang (KNA)
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