Frage: Was heißt das genau?
Gietmann: Das Land hat in den letzten 12 Jahren große soziale Umwälzungen erlebt. Die Zahl der
Flüchtlinge
, die zurückgekehrt sind, ist hoch, und die Zahl der Binnenflüchtlinge steigt. Allein in Kabul ist die Bevölkerung in kürzester Zeit um das Zehnfache gewachsen.
Frage: Darin könnte auch ein Potenzial stecken.
Gietmann: Ja, die Bevölkerung ist extrem jung, will lernen, arbeiten und sich ein Leben aufbauen. Aber ihre Chancen sind gering. Es gibt keine Industrie in Afghanistan; die gesamte Wirtschaft basiert hauptsächlich auf Drogenhandel und Korruption.
Frage: Welche Folgen hat das für die Bevölkerung?
Gietmann: Zum Beispiel die, dass die Zahl der
Drogenabhängigen
in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen ist. Sie wird aktuell auf 1 Million geschätzt, davon rund 60.000 Kinder unter 15 Jahren. Abhängig sind damit acht Prozent der afghanischen Erwachsenen, doppelt so viele wie im weltweiten Durchschnitt.
Frage: Von welchen Drogen reden wir?
Gietmann: Vor allem von Heroin und Opium. 74 Prozent der weltweiten Opium-Produktion stammen aus Afghanistan. Die psychosozialen Folgen sind katastrophal. Hier Hilfe zu leisten, gehört im Moment zu unseren
Hauptaufgaben
. Es gibt ja kein Sozialsystem.
Frage: Das heißt konkret?
Gietmann: Wir versuchen Leute vor Ort auszubilden, langfristig wirksame Strukturen aufzubauen. Aber das ist unter den aktuellen Bedingungen sehr schwer. Es fehlt an qualifizierten Kräften, die ausbilden können, sowohl lokal als international.
Frage: Wie wollen Sie das ändern?
Gietmann: Man braucht viel Geduld, das sind Prozesse, die nicht in den nächsten zwei Jahren in den Griff zu kriegen sind.
Frage: Caritas international ist seit 1984 in Afghanistan aktiv. Was hat sich seither verändert?
Gietmann: Einerseits unglaublich viel, auf der anderen Seite ist noch unglaublich viel zu tun. Als ich 2001 dort angefangen habe, gab es keine Telefone, keine Autos, viele Menschen kannten nicht einmal Feuerzeuge. Heute gibt es ein landesweites Mobilfunknetz und in jedem Dorf irgendwo einen Fernseher. Hilfsprojekte konnten insbesondere in der medizinischen und infrastrukturellen Basisversorgung einen wichtigen Beitrag leisten. Aber so ein Land innerhalb von zehn Jahren von 0 auf 100 bringen, das geht einfach nicht.
Frage: Werden die Präsidentschaftswahlen im April das vorantreiben?
Gietmann: Auf die Wahlen blicken die meisten besorgt und gespannt. Die Prognosen schwanken zwischen „neuem Bürgerkrieg“ und „es bleibt wie es ist“.
Das Interview führte Julia Rathcke