
Wenn das Smartphone den Wanderstock ersetzt
Donauwörth ‐ Eine internationale Tagung im bayerisch-schwäbischen Donauwörth widmet sich Veränderungen des Pilgerns. Anlass für ein Gespräch mit dem Religionssoziologen Michael Ebertz. Darin formuliert er einen Appell an Machertypen.
Aktualisiert: 09.09.2025
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Was heißt Pilgern? Gibt es einen Unterschied zu Wallfahren? Und kann dieses Brauchtum gefährlich werden? Antworten darauf gibt der Soziologe und Theologe Michael Ebertz. Der emeritierte Professor der Katholischen Hochschule Freiburg hat mit Kollegen eine internationale Tagung im bayerisch-schwäbischen Donauwörth organisiert, die sich vom 11. bis 13. September mit dem Wandel des Pilgerns im heutigen Europa befasst. Vorab spricht Ebertz im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) über eine mediale Schräglage zu dem Thema, den Unterschied zwischen Kirche und Touri-Info sowie Tipps fürs Losziehen.
Frage: Herr Ebertz, wie sieht der Wandel im Pilgern aus?
Michael Ebertz: Es gibt zwei Haupttrends. Einmal die Pluralisierung. Zudem wird das Feld zunehmend touristifiziert und dadurch kommerzialisiert.
Frage: Was bedeutet Pluralisierung?
Ebertz: Die Vielfalt fängt schon bei der Definition an: Was ist Pilgern? Wo ist der Unterschied zum Wallfahren? Ich würde sagen: Pilgern ist meist individuell, institutionell kaum gebunden und kann spirituell oder religiös motiviert sein. Man kann auch lebenslang pilgern, ohne ein festes Ziel zu erreichen. Wallfahren dagegen ist kollektiv, kirchlich gerahmt und folgt festen Zeiten und Zielorten: ein ritualisiertes Wandern. Darüber hinaus hat die Pluralisierung viele weitere Facetten.
Frage: Welche zum Beispiel?
Ebertz: Früher war Pilgern Glaubenssache und kirchlich gerahmt, heute gibt es viel mehr eigene Motivationen. Es gibt zum Beispiel Krisenpilgernde, die nach einer Krankheit oder Scheidung Kommunikation wie in einer Selbsthilfegruppe suchen; Auszeitpilgernde, die auf eine Unterbrechung ihres drögen Alltags hoffen; Übergangspilgernde, die mit dem Auszug der Kinder oder dem Renteneintritt klarkommen wollen. Überdies wird die Publikumsperspektive immer wichtiger. Viele Pilger berichten heute digital von ihrer Reise. Das Smartphone wird zum neuen Pilgerstab. Auch Wallfahren findet zunehmend vor Zuschauern statt.
Frage: Wie finden Sie das?
Ebertz: Diese Anbindung an Familie und Freunde, an die Öffentlichkeit mag einerseits eine soziale Stütze sein und mehr Menschen bewegen, allein in die Fremde zu gehen. Andererseits geht es beim Pilgern ja darum, sich ungewohnten Lagen auszusetzen.
Frage: Was also raten Sie einem Pilger?
Ebertz: Pack nicht zu viel in den Rucksack. Man muss das Handy nicht zu Hause lassen, es reicht aber, einmal am Tag drauf zu gucken. Mach dir den Anlass klar. Versuche, diesen Auftrag, den du dir selbst freiwillig gegeben hast, möglichst gut zu realisieren. Mach dich offen für neue Eindrücke und Erfahrungen mit anderen und mit dir selbst, auch mit Unplanbarkeiten. Rechne damit, dass du dich verändern kannst, und lass es zu. Wenn du ein Machertyp bist: Halt nicht krampfhaft an den geplanten 30 Tageskilometern fest, die du dir vorgenommen hast, wenn dein Körper dich nur 20 gehen lässt.
Frage: Wie sieht es mit überzogenen Erwartungen aus?
Ebertz: Dieses Risiko besteht. Es gibt unglaublich viele Idealisierungen des Pilgerns, literarisch etwa, es gibt enorme Überfrachtungen dessen, was sich einige vom Pilgern versprechen. Dass man sozusagen als neuer Mensch zurückkommt. Was geschieht denn, wenn solche Pläne enttäuscht werden, wenn eine ersehnte Heilung ausbleibt? Dem amerikanischen Sozialpsychologen Leon Festinger zufolge können durch gegensätzliche Erfahrungen - Ich pilger doch, weshalb hilft Gott mir nicht - Dissonanzen entstehen. Diese müssen reduziert werden, weil das Leben mit ihnen zu unangenehm wird.

Pilgerinnen gehen am 19. April 2017 auf ihrem Pilgerweg nach Trier im Wald an einem Hinweisschild für den Jakobs-Pilgerweg vorbei - einer gelben Jakobsmuschel.
Frage: Wie?
Ebertz: Das religiöse System hält dafür viele Deutungsmöglichkeiten bereit: Die Heilung läuft vielleicht schon, ohne dass du es merkst. Oder: Der göttliche Ratschluss ist unerforschlich, wer weiß, was Gott mit dir vorhat. Oder: Du warst nicht fromm genug, musst mehr Rosenkranz beten, noch mal nach Lourdes reisen. Da kann Pilgern oder Wallfahren dann gefährlich werden, indem es Menschen in Abhängigkeiten oder in neue Krisen wie Depressionen bringt, weil sie nicht mehr gelassen in den Alltag zurückfinden.
Frage: Was bedeutet der Rückgang der Kirchenbindung für das Pilgern?
Ebertz: Er könnte langfristig dazu führen, dass das Pilgern dem Wallfahren den Rang abläuft. Noch ist das kirchlich gebundene Wallfahren aber sehr stark, auch wenn es nicht so die öffentliche Aufmerksamkeit findet. Das dürfte an einer medial gefilterten Wahrnehmung liegen. Über den Jakobsweg nach Santiago de Compostela wird ja öfters berichtet, dabei zählt er im Jahr „nur“ etwa 500.000 Pilger. Die religiösen Großkraftwerke wie Lourdes, Fátima oder Altötting sind damit nicht zu toppen. Dorthin gehen jährlich jeweils mehr als fünf Millionen Menschen, nach Altötting 1,3 Millionen.
Frage: Woher rührt diese mediale Schieflage?
Ebertz: Hape Kerkelings Bestseller „Ich bin dann mal weg“ von vor 20 Jahren wirkt sicher noch nach. Auch die größere Pluralität der Pilgerschaft mag anschlussfähiger an die breite Gesellschaft sein: Während Lourdes eher klassisch katholisch-konservatives Publikum anspricht, sind auf dem Jakobsweg längst auch viele Evangelische, Konfessionslose, sogar Muslime und sogenannte Nones, also Leute ohne Religionszugehörigkeit, unterwegs. Beim Pilgern zeigt sich also auch der Trend zur Entkirchlichung.
Frage: Wie sollte die Kirche darauf reagieren?
Ebertz: Die Kirche steht vor einer zentralen Herausforderung: Sie muss loslassen und sich zugleich anbieten. Sie sollte das Pilgern nicht als Rekrutierungsangel verstehen, sondern sich als attraktive Dienstleisterin. Dafür braucht es neue Formen von Gottesdiensten mit offeneren, fragenderen, reflektierteren Predigten als heute. Es braucht auch Angebote für Nichtkatholiken, für Nichtchristen.
Frage: Was unterscheidet Kirche dann noch von einer Touri-Info?
Ebertz: Dass man da nichts zahlen muss. Und natürlich der Akzent auf die situativ jeweils neue Frage nach dem Lebenssinn, die grundlegende Wertschätzung von Menschen auf der Suche. So einen Dienst ohne Absicht zu leisten, ist christlich und kann im Effekt durchaus anziehend wirken.

Wenn das Smartphone den Wanderstock ersetzt
