Ägypten: Flucht vor der Chancenlosigkeit
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Ägypten: Flucht vor der Chancenlosigkeit

In Ägypten sind die stimmberechtigten Bürger dazu aufgerufen, am kommenden Samstag in einem Referendum über den umstrittenen Verfassungsentwurf von Präsident Mohammed Mursi abzustimmen. Im Ausland ist der Urnengang bereits seit diesem Mittwoch möglich. Die Abstimmung in Ägypten wird auf die zwei kommenden Samstage verteilt stattfinden, da sich nicht genügend Richter bereit erklärt hatten, die Stimmabgabe zu überwachen.

Erstellt: 13.12.2012
Aktualisiert: 22.06.2022
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In Ägypten sind die stimmberechtigten Bürger dazu aufgerufen, am kommenden Samstag in einem Referendum über den umstrittenen Verfassungsentwurf von Präsident Mohammed Mursi abzustimmen. Im Ausland ist der Urnengang bereits seit diesem Mittwoch möglich. Die Abstimmung in Ägypten wird auf die zwei kommenden Samstage verteilt stattfinden, da sich nicht genügend Richter bereit erklärt hatten, die Stimmabgabe zu überwachen.

Unterdessen wächst in der Bevölkerung die Sorge vor einer gewaltsamen Eskalation bei den Demonstrationen, die in diesen Tagen vor allem Kairo in Atem halten. Maria Haarmann, Nahostreferentin des katholischen Hilfswerks Misereor, berichtet im Interview mit Radio Vatikan von den Sorgen der Bürger und der Stimmung im Land – kurz vor der folgenschweren Abstimmung. Sie ist erst vor wenigen Tagen aus Ägypten zurückgekehrt.

Die Menschen beschäftige derzeit „natürlich die Angst vor der wirtschaftlichen Zukunft“, erklärt Haarmann. „Die Chancenlosigkeit wird als sehr bedrückend empfunden. Ich wurde von sehr vielen Menschen darauf angesprochen, und zwar Christen wie Muslimen, wie man denn auswandern könnte, welche Chancen es in Deutschland gäbe, gerade gut ausgebildete Menschen, junge Menschen, die gesagt haben, wir wollen hier weg, bevor das zum Pulverfass wird.“

Radio Vatikan: Die Oppositionsparteien scheinen jedenfalls nicht in der Lage, geschlossen aufzutreten und eine Linie vorzugeben, wie ihre Anhänger sich bei der Abstimmung verhalten sollten. Die beiden Alternativen wären aus Sicht der Opposition entweder ein Boykott oder eine ‚Nein‘-Stimme:

Haarmann: Die Uneinigkeit und Zersplitterung der Opposition war von Anfang an ein Problem. Wenn es einen einheitlichen Kandidaten gegeben hätte, eine einheitliche Front, wäre es natürlich viel leichter gewesen, der gut organisierten und einigen Muslimbruderschaft Paroli zu bieten. Was den Boykott oder die ‚Nein‘-Stimme angeht, auch da gibt es noch keine Einigkeit innerhalb der Opposition – aber es ist natürlich sehr gefährlich, zu boykottieren, denn die Verfassung gilt als angenommen, wenn eine Mehrzahl der Stimmen für die Verfassung abgegeben wird, nicht eine Mehrzahl der Stimmberechtigten überhaupt. Es erscheint vernünftiger, mit ‚Nein‘ zu stimmen.

Radio Vatikan: Doch warum ist es aus Sicht der Opposition nötig, den Verfassungsentwurf, der letztlich ohne die Beteiligung wichtiger gesellschaftlicher Gruppen entstanden ist – unter ihnen beispielsweise die christlichen Kirchen – und nun in aller Eile per Referendum ratifiziert werden soll, zu stoppen? Die Verfassung, so Haarmann, sei in ihrem jetzigen Entwurf zwar stärker, aber doch nicht übertrieben explizit, islamistisch geprägt als die Verfassung, die unter Mubarak in Kraft war:

Haarmann: Sie öffnet eher potentielle Einfallstore für islamistische Interpretationen. Das ist das Gefährliche daran, dass eben nicht mehr ausdrücklich von der Diskriminierung gegenüber Frauen oder von der Religionsfreiheit für alle die Rede ist. Dass insgesamt Diskriminierung missbilligt wird, aber nicht mehr gesagt wird, gegenüber welchen Gruppen. Ich habe von christlicher Seite, darunter auch von Bischöfen, immer wieder gehört, solange es um die Prinzipien der Scharia gehe, sei dagegen nichts einzuwenden, dass es aber höchst gefährlich wäre, wenn es um die Bestimmungen der Scharia gehe. Und die jetzige Verfassung öffnet in der Tat unter Umständen die Tore für solche Interpretationen und Auslegungen.

Radio Vatikan: Die Beziehungen zwischen Armee und Regierung scheinen sich jedenfalls nach dem Tiefpunkt im August, als Mursi die Befugnisse der Armee beschnitten hatte, wieder stark gebessert zu haben: Die Armee darf laut Dekret nun auch Zivilisten festnehmen und beim Schutz des Präsidentenpalastes hatte sie in diesen Tagen eine entscheidende Rolle gespielt.

Haarmann: Mir gegenüber haben viele Gesprächspartner aus der Opposition die Überzeugung geäußert, dass es stillschweigende Übereinkünfte zwischen der Armee und den Muslimbrüdern geben könnte. Es könnte auch von den Herkunftsmilieus, also dem islamisch geprägten Kleinbürgertum her, Verflechtungen geben. Menschenrechtler haben mir auch gesagt, dass die Armee weitgehend geschont werde, wenn es um die Aufarbeitung von Gewalt gegenüber Protestierenden während der Revolutionstage im Januar und Februar letzten Jahres gehe. Ein Anwalt sagte mir, dass auf die entsprechende Untersuchungskommission Druck ausgeübt würde, vor allem die von der Polizei ausgehende Gewalt – also die von den Vertretern des alten Regimes ausgehende Gewalt – anzuprangern, und nicht so sehr die Übergriffe der Armee, die sehr wohl auch stattgefunden haben. Die Armee wird also geschont.

Radio Vatikan: Zumindest die quasi uneingeschränkten Machtbefugnisse, die Mursi sich per Dekret am 22. November genehmigt hatte, hatte er als Reaktion auf die Proteste wieder abgelegt. Konkret bedeute das allerdings zunächst nur …

Haarmann: … dass er sich als Präsident nicht mehr über die richterliche Gewalt stellt, also die Gewaltenteilung wieder anerkennt und die Judikative wieder in ihre Rechte einsetzt. Das könnte, rein theoretisch allerdings, bedeuten, dass er den Richtern das Recht zugesteht, die bisherige verfassungsgebende Versammlung wieder aufzulösen. Damit würde aber auch der Verfassungsentwurf hinfällig.

(Radio Vatikan)