
Alltag in der Krise
Noch immer ist in der Ukraine-Krise keine Einigung in Sicht. Der Konflikt zwischen pro-europäischen und pro-russischen Gruppen bestimmt das Alltagsleben der Ukrainer und führt immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Zwei Salesianerpater, die vor Ort tätig sind, haben jetzt bei einem Besuch in der Don Bosco Mission in Bonn von ihrer Arbeit erzählt und darüber berichtet, wie sehr die politische Lage Einfluss auf ihr Engagement hat.
Aktualisiert: 12.07.2015
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Noch immer ist in der Ukraine-Krise keine Einigung in Sicht. Der Konflikt zwischen pro-europäischen und pro-russischen Gruppen bestimmt das Alltagsleben der Ukrainer und führt immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Zwei Salesianerpater, die vor Ort tätig sind, haben jetzt bei einem Besuch in der Don Bosco Mission in Bonn von ihrer Arbeit erzählt und darüber berichtet, wie sehr die politische Lage Einfluss auf ihr Engagement hat.
Wenn Pater Mykhaylo Chaban im Jugendzentrum in Lemberg im Westen der Ukraine zum Fußballspielen einlädt, ist es gut möglich, dass aus der ganzen Region 400 Kinder auf einmal kommen. Seit 2007 leitet er das Waisenhaus, das neben einem Berufsausbildungszentrum und Freizeitangeboten die Einrichtung ausmacht. Derzeit bietet sie für 52 Waisen und 40 Jugendliche eine dauerhafte Heimat. Pater Mykhaylo mag es nicht, wenn man das Haus als „Internat“ bezeichnet. „Bei uns wohnen die Jugendlichen in kleinen Gruppen zusammen – wie in einer Familie“, betont der Salesianer. Deshalb heißt das Waisenhaus auch „Casa Famiglia“, „Familienhaus“.

Die Kinder kommen dorthin, weil sie keine Eltern mehr haben oder diese nicht in der Lage sind, sich um sie zu kümmern. Etwa, weil sie Probleme mit Drogen oder Alkohol haben, im Gefängnis sind oder auf der Suche nach Arbeit im Westen Europas ihre Kinder zurückgelassen haben. „Viele Jugendliche wachsen unter Bedingungen auf, durch die sie nicht auf das Leben vorbereitet werden“, erklärt Pater Mykhaylo. Bei den Ordensmännern bekommen sie die fachliche Unterstützung, die ihnen fehlt, können zur Schule gehen und später eine Ausbildung machen.
Aber das ist nicht alles. Oftmals kennen die Kinder kaum das Gefühl von Liebe und Zuneigung. Auch das können sie jetzt in der „Casa Famiglia“ erfahren.
Pater Onorino Pistellato berichtet, dass es in der Ukraine insgesamt 12 Niederlassungen der Salesianer mit etwa 70 Ordensleuten gibt. Der gebürtige Italiener ist seit zehn Jahren in der Ukraine und steht den dortigen Einrichtungen als Provinzial vor. Das Jugendzentrum in Lemberg, wo die Kinder dauerhaft ein Zuhause finden, sei jedoch einzigartig.
Ein dauerhaftes Zuhause
In einer Broschüre über das Projekt wird beispielhaft die Geschichte des 12-jährigen Ilya erzählt. Er hatte bereits in zwei verschiedenen Pflegefamilien, auf der Straße und in einem Übergangsheim gelebt. Dann kam er zu den Salesianern und fand dort endlich ein Zuhause. „Ich werde hier geliebt und habe alles, was ich brauche“, sagt Ilya. Wenn er erwachsen ist, möchte er am liebsten selbst Erzieher im Familienhaus werden.
„Sicher, wir alle spüren die Krise“, sagt Pater Mykhaylo zur aktuellen Lage in der Ukraine. Auch wenn der Westen der Ukraine natürlich weniger betroffen sei als der Osten und der Alltag in Lemberg einigermaßen normal weitergehe, sei die ganze Bevölkerung in großer Sorge. Besonders spürten die Salesianer die Krise durch die zahlreichen Migranten aus der Ost-Ukraine. Diesen fehle in ihrer neuen Bleibe oft ein Netzwerk. Die Salesianer sammeln Kleidung, Nahrungsmittel und Medizin für die Neuankömmlinge und beherbergen einige Familien sogar selbst. Auch im Jugendzentrum in Lemberg sind mittlerweile zehn Kinder aus dem Osten der Ukraine untergebracht.

Eine besondere Sensibilität aus dem Ausland für ihre schwierige Situation oder gar einen Anstieg der Spendengelder bemerken die Ordensmänner allerdings nicht. Umso mehr spüre man innerhalb der Ukraine die Anteilnahme der Bevölkerung für das Kriegsgeschehen. „Die Menschen sammeln Helme und Schutzwesten für die jungen Leute, die in den Krieg ziehen“, berichtet Pater Mykhaylo.
Bedrückt erzählt er von einem Bekannten, bei dem nachts um drei Uhr das Telefon klingelte. Im Gespräch wurde ihm mitgeteilt, dass er in die Armee eingezogen werde.
Theoretisch könne das auch seinen Schützlingen im Jugendzentrum passieren, sagt Pater Mykhaylo. Zwar seien die Waisenkinder – noch – durch ein Gesetz davor geschützt und müssten keinen Kriegsdienst leisten. Die Jugendlichen aber, deren Eltern beispielsweise im Gefängnis sitzen, könnte jederzeit genau so ein Anruf erreichen und der Pater wäre völlig machtlos.
Schwierige Vergangenheit
Pater Onorino, der durch seine Tätigkeit als Provinzial einen Überblick über das Land hat, ergänzt, dass die Ukraine sehnsuchtsvoll nach Europa blicke. „Die Geschichte der Ukraine ist eine Leidensgeschichte und eine Geschichte von Abhängigkeiten“, sagt der 70-jährige. „Die Orangene Revolution im Jahr 2004 hat eine große Hoffnung geweckt, sie war ein wirklicher Frühling.“ Allerdings sei es anschließend schwierig gewesen, reale Veränderungen herbeizuführen.
„Die Geschichte der Ukraine ist eine Leidensgeschichte und eine Geschichte von Abhängigkeiten“
Mittlerweile fühlten sich die Ukrainer tatsächlich als Bürger und nicht mehr als Untergebene. Jetzt aber müsse es das Land als Ganzes noch schaffen, von Russland unabhängig und vollkommen selbstständig zu werden, erklärt Pater Onorino. Dabei richte sich der Blick deutlich gen Westen. Die Ukrainer wünschten sich Hilfe von Europa und den USA.
Nicht nur schlechte Nachrichten
Pater Onorino berichtet aber auch Positives. So gehe es dem Christentum in der Ukraine gut. Er erzählt, dass es nach dem Ende des Kommunismus ein großes Bedürfnis nach Religion gegeben habe. Die Zahl der Berufungen zu Priestern und Ordensleuten sei stark angestiegen, insbesondere innerhalb der Gemeinschaft der Salesianer. Pater Mykhaylo scheint auch zu dieser Generation zu gehören: Bereits mit 28 Jahren wurde er zum Priester geweiht.
Bei allen Schwierigkeiten gibt es für die Jugendlichen in Lemberg an diesem Tag gute Nachrichten. Direkt nach dem Gespräch in Bonn kommt eine Frau auf Pater Mykhaylo zu und fragt, ob das Jugendzentrum einen Bedarf an Fußballtoren habe. „Immer!“, antwortet der Pater und strahlt.
Von Theresia Lipp