„Wir brauchen legale Zugangswege nach Europa“
Flüchtlinge ‐ Am Samstag reist der Papst nach Lesbos. Die griechische Insel ist einer der Hauptschauplätze der Flüchtlingskrise. Im Interview fordert der Vorsitzende der Deutschen Kommission Justitia et Pax, Bischof Ackermann, faire Asylverfahren in Griechenland - und wirft auch einen kritischen Blick auf das kürzlich beschlossene EU-Türkei-Abkommen.
Aktualisiert: 12.09.2022
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Der anstehende Besuch von Papst Franziskus auf der Insel Lesbos richtet den Blick auf die Situation der dortigen Flüchtlinge. Im Interview fordert der Vorsitzende der Deutschen Kommission Justitia et Pax (Gerechtigkeit und Frieden), der Trierer Bischof Stephan Ackermann, dass in Griechenland menschenrechtskonforme Asylverfahren gewährleistet werden. In mehreren Punkten kritisiert er die neue Praxis des Austauschs von Flüchtlingen zwischen Türkei und EU.
Frage: Herr Bischof, am Samstag besuchen Papst Franziskus und Patriarch Bartholomaios I. ein Flüchtlingszentrum auf der griechischen Insel Lesbos. Welche Bedeutung hat diese Reise?
Ackermann: Sie ist ein konkretes Zeichen der Nähe zu den Migranten und Flüchtlingen und lenkt den Blick Europas zurück auf die drängende Migrationsfrage. Die Flüchtlingsbewegungen waren monatelang das Topthema in der Öffentlichkeit. Nachdem Mazedonien seine Grenze abgeriegelt hat und das Abkommen zwischen der EU und der Türkei in Kraft ist, ist es in der Öffentlichkeit fast gespenstisch ruhig geworden um das Thema.
Frage: Beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs im März einigte man sich auf eine Kontingentlösung. In diesem Jahr sollen 72.000 syrische Flüchtlinge europaweit verteilt werden. Halten Sie das für einen erfolgversprechenden Weg?
Ackermann: Ich sehe die Bemühungen innerhalb der EU um eine Kontingentlösung positiv. Gemeinsame Kontingentlösungen würden einen echten Fortschritt für die europäische Flüchtlingspolitik bedeuten. Doch ein solches Kontingent muss natürlich eine signifikante Zahl sein, damit die Menschen, die sich zur Flucht gezwungen sehen, auch den Eindruck haben, dass es eine echte Chance gibt, nach Europa zu kommen. Wenn Europa 72.000 Flüchtlinge aufnehmen will, dann bedeutet das übrigens kein neues Kontingent – das ist lediglich eine noch nicht ausgeschöpfte „Restzahl“ von früheren Vereinbarungen.
Frage: Wie hoch müsste denn Ihrer Meinung nach eine Zahl ausfallen, damit man sie als signifikant bezeichnen kann?
Ackermann: Eine Zahl von 200.000 Flüchtlingen europaweit hielte ich für eine signifikante Größe.
Frage: Menschenrechtsorganisationen kritisieren den neuen Modus, dass Europa für jeden Bootsflüchtling, der in die Türkei zurückgeschoben wird, im Gegenzug einen syrischen Flüchtling von dort aufnehmen will.
Ackermann: Diese Kopplung ist definitiv zu kritisieren. Pauschale Abschiebungen sind im EU-Raum rechtlich nicht erlaubt. Es steht aber zu befürchten, dass sie nun in Griechenland praktiziert werden. Ich will nicht schwarzmalen, aber es ist fraglich, ob es Griechenland gelingt, ordentliche, das heißt rechtlich unanfechtbare Asylverfahren zu etablieren. Bisher war es faktisch so, dass Flüchtlinge, die aus Griechenland zu uns kamen, nicht wieder zurückgeführt wurden, wie es nach der Dublin II-Verordnung eigentlich hätte sein müssen. Deutsche Gerichte hatten nämlich Zweifel an den asylrechtlichen und menschenrechtlichen Standards. Wenn das nun funktionieren soll, ist die zugesagte Verstärkung durch die europäischen Partner dringend notwendig.
Frage: Nach dem EU-Türkei-Abkommen sollen auf dem Kontinent nur noch syrische Flüchtlinge aufgenommen werden.
Ackermann: Auch das ist bedenklich, weil es andere Flüchtlinge gibt, die aufgrund der Situation in ihrem Heimatland ebenfalls hohe Chancen auf Anerkennung bei uns haben. Menschen aus Eritrea zum Beispiel. Oder aus Afghanistan: Hier sind zum Beispiel Personen betroffen, die mit der Bundeswehr zusammengearbeitet haben, die deswegen verfolgt werden und nicht mehr in Afghanistan bleiben können. Wie nehmen wir hier unsere Verantwortung wahr?
Frage: Ist es verantwortlich, die Türkei, in der sich bereits Millionen Syrer aufhalten, noch stärker zu belasten, indem die EU das Land als Auffangbecken nutzt?
Ackermann: Zwar haben die EU-Staaten Hilfen über drei Milliarden Euro zugesagt. Aber nach verlässlichen Informationen ist die Situation in den türkischen Lagern derzeit so schlimm, dass viele Syrer sich nicht in den Lagern aufhalten. Damit kommen ihnen aber die zugesagten Mittel gar nicht zugute! Problematisch ist ebenfalls, dass die Türkei sich nicht generell auf die Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet hat: Nur Europäer werden im Sinne der Konvention behandelt. Die Einhaltung von Zusicherungen durch die Türkei ist, wenn man jüngsten Berichten von Amnesty International Glauben schenken darf, äußerst fraglich.
Frage: Die Abriegelung der Balkanroute hat zu einem Rückgang der Flüchtlingszahlen geführt. War das eine zwar umstrittene, aber doch auch effektive Maßnahme?
Ackermann: Es scheint fürs erste so. Wenn aber jetzt die mazedonische Grenze geschlossen ist, wird es wahrscheinlich so sein, dass die Schlepperbanden gefährlichere Routen auskundschaften. Letztlich muss es immer darum gehen, Schutzsuchende davon abzubringen, solche Fluchtwege zu wählen, die das Schlepperunwesen verstärken und lebensgefährlich sind.
Frage: Also die Flucht zu entkriminalisieren, so gut es geht?
Ackermann: Genau. Dazu können die „humanitären Korridore“, die die geistliche Gemeinschaft Sant'Egidio zusammen mit den italienischen Botschaften praktiziert, helfen. Auch die Bundesrepublik könnte solche Visa aus „humanitären Gründen“ ausstellen, was sie bisweilen auch schon getan hat. Wesentlich für eine zukunftsfähige Lösung sind jedoch legale Zugangswege nach Europa. Dann brauchen Menschen – vor allem aus Afrika – nicht unter dem Vorwand der Asylsuche nach Europa zu kommen, und wir finden Regelungen, die praktikabel und menschenwürdig zugleich sind.
Von Michael Merten (KNA)
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