Der Papst in einem verwundeten Land
Chile ‐ An seinem ersten Tag in Chile spricht Papst Franziskus den Missbrauch durch katholische Kleriker und die Lage der Indigenen an. Er weiß, dass die Glaubwürdigkeit der Kirche auf dem Spiel steht.
Aktualisiert: 16.01.2018
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Auch Chile hat seinen 11. September erlebt: An jenem Tag griffen Bomber der eigenen Luftwaffe den Präsidentenpalast an, Salvador Allende, das gescheiterte linke Staatsoberhaupt, nahm sich in den brennenden Gemäuern das Leben. Was folgte, war die Diktatur von General Augusto Pinochet. Fast 45 Jahre ist das her, aber das Trauma sitzt tief im Nationalbewusstsein, tiefer vielleicht als die Wende zur Demokratie seit 1989.
An diesem beladenen Ort spricht der Papst. La Moneda in Santiago, 1805 als koloniale Münzprägestätte gegründet, später dann Präsidentensitz des 1818 ausgerufenen unabhängigen Chile – ein Symbolort für das, was Verlässlichkeit in Wirtschaft und Politik eines Gemeinwesens garantiert. Und was sich an einem Mittag von ein paar Kampfjets niederbomben lässt.
Franziskus nutzt die Gelegenheit, der scheidenden Präsidentin Michelle Bachelet und dem künftigen Staatschef Sebastian Pinera darzulegen, was aus seiner Sicht den sozialen Zusammenhalt sichert: die Fähigkeit zum Zuhören. Dabei thematisiert er in der ersten Rede seines Chilebesuchs auch die beiden emotionalsten Kontroversen in Staat und Kirche: die Rechte der Ureinwohner und sexuellen Missbrauch.
„Schmerz und Scham“ äußert der Papst angesichts der Vergehen an Minderjährigen. Er spricht von einem „nicht wiedergutzumachenden Schaden, der Kindern von Geistlichen der Kirche zugefügt wurde“. Die Bischöfe bestärkt er in ihrer Vergebungsbitte und ihrer Hilfe für die Opfer; aus seiner Sicht haben sie offenbar angemessen auf die Krise reagiert. Auf eine umstrittene Personalie, die ihn selbst betrifft, geht er nicht ein. Im Januar 2015 ernannte Franziskus den als schwierig geltenden Militärbischof Juan Barros zum neuen Oberhirten von Osorno, einem Bistum mit gerade einmal 20 Priestern im tiefen Süden. Barros ist geistlicher Zögling des Priesters Fernando Karadima, der 2011 wegen Missbrauchs verurteilt wurde. Manche behaupten, Barros habe um die Taten Karadimas gewusst und geschwiegen; bewiesen ist es nicht.
Im Oktober 2015 sagte Franziskus in einem spontanen Wortwechsel mit Barros-Kritikern am Rande einer Generalaudienz in Rom, das Bistum leide „aus Dummheit“. Ein Handy-Video des Disputs landete im Netz. Seither wird die Debatte auch um das Ansehen des Papstes geführt. Der Anteil derer, die die Institution Kirche als vertrauenswürdig bezeichnen, sank seitdem auf 36 Prozent.
Nicht zuletzt die zunehmende Säkularisierung – 38 Prozent bezeichnen sich als religionslos – zeigt, dass die Gesellschaft Chiles einen Wandel durchläuft. Weiterhin bestehen soziale Gegensätze: So hoch das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist, so steil ist das Gefälle zwischen Arm und Reich.
Franziskus lässt am Dienstag im Präsidentenpalast die verlorenen Schlachten der katholischen Kirche unerwähnt, etwa gegen Abtreibung und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften. Vielmehr wirbt er für Pluralität und einen unvoreingenommenen Blick für das Gemeinwohl. An die alte und neue Regierung adressiert er Mahnungen, sich besser um Arbeitslose, Migranten und die Bildungschancen von Jugendlichen zu kümmern. Viele befürchten, dass die schon unter Bachelet nicht eben starke Sozialpolitik unter dem Unternehmer Pinera weitere Einschnitte erleidet.
Mit Nachdruck macht sich der Papst an seinem ersten Besuchstag aber auch für die Rechte und die Kultur der Indigenen stark. Auch dies ein heißes Eisen: Vor allem die Mapuche, die Franziskus am Mittwoch in Temuco besuchen will, kommen immer wieder auch mit gewaltsamen Aktionen beim Kampf um ihr angestammtes Land und ihre Kultur in die Schlagzeilen. Kurz nach der Ankunft des Papstes brannten in der Unruheprovinz Araukanien zwei Kapellen.
Von der „Weisheit der angestammten Völker“, sagt Franziskus vor den Politikern, lasse sich lernen, „dass es keine Entwicklung für ein Volk gibt, das der Erde den Rücken kehrt“. Von den Indigenen erhoffe er für Chile Impulse gegen eine „rein konsumistische Lebensauffassung“. Dafür bekommt er Beifall, wie zuvor für sein Schuldbekenntnis zum Missbrauch. Auch die Menschen im O'Higgins-Park, die auf eine Messe mit dem Papst warten und eine Übertragung der Rede aus dem Präsidentenpalast hören, applaudieren lange.
Wenig später, beim Gottesdienst, hat Franziskus einen geistlichen Ratschlag parat, der auch zu den Spannungen Chiles passt: sich gegenüber dem Leiden anderer nicht blind zu stellen. Und er fügt eine nicht minder bedeutsame Mahnung hinzu: Selig, die keine Spaltung säen.