„Vor 40 Jahren hätten wir uns durchlöchert“
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„Vor 40 Jahren hätten wir uns durchlöchert“

Argentinien ‐ In den 1970er-Jahren waren Ex-Militär Rodolfo Richter und der ehemalige Guerillakämpfer Carlos Gabetta erbitterte Feinde. Heute versuchen sie die Zeit von damals gemeinsam zu begreifen. Im Interview erzählen sie von ihrer ungewöhnlichen Freundschaft.

Erstellt: 22.03.2019
Aktualisiert: 23.03.2023
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In den 1970er-Jahren waren Ex-Militär Rodolfo Richter und der ehemalige Guerillakämpfer Carlos Gabetta erbitterte Feinde. Beide haben für ihren ideologischen Kampf in Argentinien, wo am 24. März 1976 die Militärdiktatur begann, einen hohen Preis bezahlt. Heute versuchen sie die Zeit von damals gemeinsam zu begreifen. Im Interview erzählen sie von ihrer ungewöhnlichen Freundschaft.

Frage: Herr Richter, als Sie Gabetta das erste Mal begegneten, verspürten Sie keinen Groll? Immerhin hat seine Guerillagruppe ERP Sie in den Rollstuhl gebracht. 

Richter: Nein. Ich bezeichne mich nicht als Opfer, und schon gar nicht als unschuldig. Gabetta hat in jenen Jahren als Guerillero seine Frau und Mitstreiterin verloren. Soweit ich weiß, war sie seine große Liebe. Das berührt mich. Am Ende haben wir beide – Gabetta und ich – Verletzungen an Körper und Seele erlitten.

Frage: Und Sie, Herr Gabetta? Groll?

Gabetta: Ebenfalls nein, so etwas habe ich nie verspürt. Nicht gegen die Militärs, nicht gegen Richter. Ich bewundere ihn sogar. Weil er sich den Sachen immer gestellt hat. Erst als Soldat im Kampf, dann als Verletzter: Er ist wieder aufgestanden, hat studiert und am Ende seine Uni-Abschlussarbeit über uns, die ERP, geschrieben – wir, die ihn im Rollstuhl zurückgelassen haben.

Frage: Ihre erste Begegnung, wann und wie war sie?

Gabetta: Vor rund drei Jahren, wegen seiner Uni-Arbeit. Klar, beim ersten Treffen haben wir uns genau unter die Lupe genommen. Uns beiden war rasch klar, dass nicht wir damals die Bösen waren. Er nicht innerhalb des Militärs, ich nicht bei den Guerilleros.

Richter: Ich bin sowieso überzeugt, heute mehr denn je, dass die wirklich Bösen hinter einem Schreibtisch sitzen, einen Anzug tragen und dass das Telefon ihre Waffe ist.

Frage: Am Ende entschieden Sie sich sogar, Ihre Gespräche und die Zeit von damals niederzuschreiben.

Gabetta: Ja, man stelle sich das vor! Wären wir uns vor 40 Jahren gegenübergestanden, hätten wir uns durchlöchert.

Frage: Herr Richter, Sie setzten sich für Ordnung, Pflicht, Werte wie Ritterlichkeit ein. Sie, Herr Gabetta, für soziale Gerechtigkeit. Was waren die Feindbilder?

Gabetta: Mein Feind war der Imperialismus, die rechten Politiker, die Verantwortlichen für die Armut. Im Grunde genommen waren nicht die Militärs meine Feinde, die waren ja nur ein Instrument meiner Feinde.

Richter: Meine Feinde waren die bewaffneten Gruppierungen, die die Militärs erschossen, Bomben legten. Als junger Mann wollte ich sie vernichten. Heute denke ich, dass der größte Feind in einem selbst ist.

„Die wirklich Bösen sitzen hinter einem Schreibtisch.“

—  Zitat: Rodolfo Richter, Ex-Militär in Argentinien

Frage: Fehler passierten auf beiden Seiten ...

Richter: Im Kampf gegen die Untergrundbewegungen begingen die Militärs Verbrechen wie Folter und das Verschwindenlassen von Menschen. Innerhalb des Militärs gab es allerdings Leute, die nie illegale Mittel anwendeten, so wie ich. Deswegen plädiere ich dafür, dass die Schuld nicht dem gesamten Militär zugeschoben wird, sondern jenen, die verantwortlich sind.

Gabetta: Die Guerilla mordete nicht um des Mordens willen. Wir radikalisierten uns, weil uns die Umstände dazu zwangen. Es war damals ein Wahnsinn, wie im Nationalsozialismus. Nichtsdestotrotz, auch die Guerilla beging Verbrechen, die aufgearbeitet werden sollten. So müsste man über die Moral oder Nicht-Moral einiger Aktionen sprechen, wo unschuldige Menschen mit in den Tod gerissen wurden.

Frage: Früher Feinde, heute Freunde?

Richter: Ja. Ich höre ihm zu und versuche ihn zu verstehen. 

Gabetta: Er ist nach wie vor ein katholischer Nationalist. Er versteht nicht, dass Gott nicht existiert, dass die Rechte reaktionär ist. Die Ideologie trennt uns heute noch. Dennoch, wir sind Freunde geworden, rufen uns regelmäßig an.

Frage: Und nun?

Richter: Obwohl ich ein Mann bin, der glaubt, dass das Leben aus Kampf besteht, wünsche ich mir den Frieden – erreichbar durch Wahrheit und Justiz. Wir sollten an eine gemeinsame Zukunft denken und die gesellschaftlichen Spaltungen hinter uns lassen.

Gabetta: Ich glaube nach wie vor an eine bessere Welt. Heute hätte es genug Lebensmittel und Ressourcen für die ganze Menschheit. Statt sie gerecht zu verteilen, passiert das Gegenteil. Das System müsste wechseln. Ich würde sagen, ich bin ein Pessimist aus Intelligenz, aber ein Optimist des Willens (lacht).

Von Camilla Landbö (KNA)

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