Misereor-Expertin zu Afghanistan-Arbeit: „Es gibt eine Art wohlwollendes Dulden“
Aachen ‐ Das katholische Hilfswerk Misereor unterstützt in Afghanistan zusammen mit Partnern aktuell zwölf Projekte mit einem Gesamtvolumen von 7,5 Millionen Euro. Im Gespräch berichtet Länderreferentin Anna Dirksmeier von den Herausforderungen für die rund 250 Mitarbeiter. Die Unsicherheit sei groß - aber es gebe auch Lichtblicke in einer insgesamt dramatischen Lage.
Aktualisiert: 28.12.2022
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Das katholische Hilfswerk Misereor unterstützt in Afghanistan zusammen mit Partnern aktuell zwölf Projekte mit einem Gesamtvolumen von 7,5 Millionen Euro. Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) berichtet Länderreferentin Anna Dirksmeier von den Herausforderungen für die rund 250 Mitarbeiter. Die Unsicherheit sei groß - aber es gebe auch Lichtblicke in einer insgesamt dramatischen Lage.
Frage: Frau Dirksmeier, viele Politiker sagen, der schnelle Vormarsch der Taliban nach dem Abzug der internationalen Truppen sei so nicht zu erwarten gewesen. Teilen Sie diese Ansicht?
Dirksmeier: Wir haben mit großer Sorge das Voranschreiten der Taliban beobachtet und schon früh davor gewarnt, dass der so plötzlich geplante Abzug, dazu noch ohne Bedingungen an die Taliban zu stellen, eigentlich nicht verantwortbar war. Was wir jetzt erleben, ist Folge einer verfehlten Politik.
Frage: Das heißt?
Dirksmeier: Als Hilfswerk haben wir immer gute Regierungsführung angefordert – und das zu Zeiten, als es den Staat noch gab. Stattdessen war die Regierung bekannt als korrupt, hatte auch nur mit einer hauchdünnen Mehrheit die letzten Wahlen gewonnen. Nun ist Präsident Aschraf Ghani geflohen, staatliche Strukturen brechen zusammen. Dass die Taliban so schnell vorrücken konnten, hängt auch damit zusammen, dass sie auf wenig Widerstand stießen. Es gab zwar erbitterte Kämpfe in manchen Teilen des Landes, aber es gab genauso viel Fahnenflucht seitens des afghanischen Militärs, weil die Soldaten oft nicht wussten, für wen sie denn ihr Leben einsetzen sollten.
Frage: Welche Signale haben Sie beziehungsweise die Misereor-Partner bisher von den Taliban empfangen? Können Sie Ihre Arbeit fortsetzen?
Dirksmeier: „Die“ Taliban gibt es nicht, sondern man muss die Lage von Region zu Region betrachten. Unsere Partner versuchen auf jeden Fall, im Land zu bleiben und in das Gespräch mit den jeweiligen Taliban-Vertretern zu kommen. Ziel ist, die Arbeit zunächst mit geringem Profil weiterzuführen, ohne dass sich die an den Projekten Beteiligten offen als Helfer zu erkennen geben.
Frage: Kann das funktionieren?
Dirksmeier: Ja. Das Personal unserer Partner steht nicht so sehr im Fokus, weil es für private Träger und nicht für staatliche Stellen gearbeitet hat. Und viele Partner sagen uns, dass die Taliban durchaus ein Interesse daran haben, dass die Unterstützung durch die Nichtregierungsorganisationen weiter geht. Es gibt eine Art wohlwollendes Dulden.
Frage: Wie äußert sich das zum Beispiel?
Dirksmeier: Indem etwa die 20 in einem von uns geförderten Kinderkrankenhaus in Kabul geplanten Operationen stattfinden konnten. Es gibt da keinerlei Behinderungen und damit auch keinen Grund, das Personal dringend außer Landes zu schaffen.
Frage: Was brauchen die Menschen in Afghanistan jetzt am dringendsten?
Dirksmeier: Sicherheit. Die Lage vor Ort ist ja sehr chaotisch. Aber bei all dem Chaos gibt es auch Positives. Bei einem Projekt gelang es, das Frauenbildungszentrum wieder aufzumachen, nachdem es zunächst aus Furcht vor den Taliban geschlossen hatte. Nun kann die Arbeit dort weitergeführt werden: Frauen können weiter an den Computer- oder Näh- und Englischkursen teilnehmen. Frauen dürfen jedoch nur von Frauen unterrichtet werden.
Frage: Vermutlich ist diese Nachricht aber eher ein Einzelfall, oder?
Dirksmeier: Man hört auf der anderen Seite auch, dass die Taliban in den von ihnen eroberten Dörfern Listen anfordern von jungen Frauen zwischen 16 und 40 Jahren, um sie zwangszuverheiraten. Mancherorts zwingen die Taliban junge Männer, bei ihnen zu kämpfen. Solche Vorkommnisse sorgen für große Ängste in der Bevölkerung. Im ganzen Land sind vier Millionen Menschen auf der Flucht.
Frage: Was wünschen Sie sich als Helfer von der Bundesregierung und der EU?
Dirksmeier: Wir wünschen uns auf jeden Fall, das zunächst einmal die Flüchtlinge versorgt werden. Die Situation ist dramatisch. Es gibt kaum einen Park in einer größeren Stadt, der nicht besiedelt ist von Menschen, die dort in zeltähnlichen Behausungen dahinvegetieren. Viele Männer sind umgebracht worden, sodass Witwen mit ihren Kindern unversorgt sind. Sie haben nicht einmal Nahrung für sich selbst und betteln um Milch für ihre Kinder. Die Situation ist wirklich dramatisch. Strukturelle Aufbauhilfe ist darüber hinaus nötig.
Frage: Deutschland hat die Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan ausgesetzt. Künftig will die EU die Entwicklungshilfe für Afghanistan an Bedingungen knüpfen. Was halten Sie davon?
Dirksmeier: Unsere Partner sehen mit Sorge, wenn die Hilfen vom Engagement der Taliban für eine umfassende Friedenslösung und der Achtung der Grundrechte abhängig gemacht werden. Ohne Zweifel müssen die Wahrung beziehungsweise die Wiederherstellung der Menschenrechte das leitende Ziel einer jeden Politik sein. Daran sind natürlich auch unsere Partner grundsätzlich interessiert. Allerdings steht derzeit die Befürchtung im Raum, dass die Entwicklungshilfe gekürzt wird. Das würde die Zivilbevölkerung in Afghanistan hart treffen.
Die Fragen stellte Joachim Heinz (KNA)
© KNA