Putins Krieg könnte Millionen Menschen in den Hunger treiben
Bonn ‐ Putins Krieg hat auch Folgen für die Welternährung. Experten fürchten wachsenden Hunger, aber auch wachsenden Nutzungsdruck auf Agrarflächen.
Aktualisiert: 27.07.2022
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Putins Krieg in der Ukraine könnte Millionen Menschen weltweit in den Hunger treiben. Denn die Ukraine und Russland sind wichtige Exporteure von Weizen, Gerste, Mais und Sonnenblumenöl - bei Weizen etwa machen sie gemeinsam ein Drittel der globalen Exporte aus. Deshalb hat Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) am Freitag zu einem virtuellen Sondertreffen der Agrarminister der G7-Staaten eingeladen. Deutschland hält derzeit die G7-Präsidentschaft.
Özdemir betonte im Vorfeld, die Versorgung mit Lebensmitteln in Deutschland und der EU sei zwar gesichert. Es drohten Preisanstiege, aber keine leeren Regale. Jedoch sei mit größeren Versorgungsengpässen in einigen Ländern außerhalb der EU zu rechnen – vor allem dort, wo heute schon Nahrungsknappheit etwa aufgrund von Dürren herrsche.
Experten verweisen darauf, dass die Frühjahrsbestellung der Felder in der Ukraine derzeit kaum möglich sei. Russland werde voraussichtlich aufgrund der Sanktionen deutlich weniger Güter exportieren. Andererseits, so befürchten Wissenschaftler, könnte Putin Getreide-Exporte als geopolitische Waffe einsetzen.
Der Bonner Agrarökonom und Direktor am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF), Matin Qaim, befürchtet, dass die Zahl der Hungernden in den kommenden Monaten um mehr als 100 Millionen Menschen ansteigen könnte. Er verwies am Mittwoch in einem Beitrag für das Science Media Center darauf, dass die Situation auf den Weltagrarmärkten schon vor dem Krieg angespannt gewesen sei – die Preise lagen höher als in den letzten 20 Jahren.
Grund dafür waren eine steigende Nachfrage, hohe Energie- und Transportkosten, hohe Preise für Düngemittel und schlechte Ernten in einigen Regionen, die durch Wetterextreme verursacht wurden. „Seit Ausbruch des Ukraine-Krieges sind die internationalen Preise für Weizen und einige andere Lebensmittel um weitere 50 Prozent gestiegen, und sie steigen weiter.“
Hauptimporteure von Getreide aus Russland und der Ukraine sind Länder im Mittleren Osten, Nordafrika und anderen Teilen Afrikas – also Regionen, in denen ohnehin Hunger verbreitet ist. Zusätzlich sind vor allem Russland und Belarus auch große Exporteure von Düngemitteln, betont der Agrarexperte. Beide Länder zusammen machten zum Beispiel rund 30 Prozent der weltweiten Kalium-Düngerexporte aus. Auch Düngemittel würden somit knapper und teurer. Die Folge: niedrigere Erträge.
Qaim sprach sich dafür aus, Nahrungsexporte aus Russland soweit möglich aus Handelsembargos auszuklammern. Derzeit sind bei SWIFT medizinische und landwirtschaftliche Produkte ausgenommen. Europa und andere Teile der Welt sollten versuchen, möglichst viel Getreide und Ölsaaten zu produzieren und möglichst wenig außerhalb des Lebensmittelbereichs zu verwenden. „Weniger Getreide zu verfüttern, wäre auch gut und richtig, aber das ist kurzfristig politisch schwerer umsetzbar.“
Versuchung egoistischer Maßnahmen widerstehen
Lisa Biber-Freudenberger, Junior-Professorin für Nachhaltige Entwicklung in Bonn, verwies darauf, dass durch ausbleibende Exporte auch der Nutzungsdruck auf Landflächen zunimmt. Immer mehr Flächen, die für den Biodiversitäts- und Klimaschutz wichtig sind, würden landwirtschaftlich genutzt. Zugleich forderte Biber-Freudenberger eine internationale Debatte darüber, dass global ein Großteil der landwirtschaftlichen Erträge verfüttert oder verheizt würden.
Der Rostocker Professor für Agrarökonomie, Sebastian Lakner, erklärte, die EU habe in vielen Bereichen einen Selbstversorgungsgrad von über 100 Prozent – darunter bei Schweinefleisch bei 130 Prozent, bei Rindfleisch bei 109 Prozent und bei Geflügelfleisch 106 Prozent. „Auch im Getreidebereich liegen wir bei leichten Schwankungen etwas über 100 Prozent.“ Das bedeute, dass es zwar im Einzelfall Lieferschwierigkeiten geben könne. „Aber die Versorgungslage in der EU ist nicht gefährdet.“
Der Göttinger Agrarforscher Stephan von Cramon-Taubadel verlangte von Deutschland und der EU, „eine groß angelegte und international koordinierte Lebensmittelhilfe“ vorzubereiten. Regierungen auf der ganzen Welt müssten zudem der Versuchung widerstehen, „egoistische“ Maßnahmen wie etwa Verbote von Getreide-Exporten zu ergreifen, die die eigene Bevölkerung auf Kosten der Armen und Hungernden in anderen Ländern schützten. Mittel- und langfristig seien Bemühungen, landwirtschaftliche Produktivität und Nachhaltigkeit zu steigern, von entscheidender Bedeutung.
Christoph Arens (KNA)
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