Was Krieg, Getreidepreise und volle Ställe miteinander verbindet
Aachen ‐ Erst die Corona-Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine. Experten befürchten, dass die Zahl der Hungernden weltweit die Grenze von einer Milliarde bald überschreiten wird. Was lässt sich dagegen tun?
Aktualisiert: 21.07.2022
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Felix Prinz zu Löwenstein ist nicht der Einzige, der beim Kampf gegen den Hunger in der Welt ein Problem aufziehen sieht. „Schon jetzt liegen die Preise für Grundnahrungsmittel auf einem enorm hohen Niveau“, sagt der Agrarwissenschaftler und langjährige Vorsitzende des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW), der dem Beirat des Hilfswerks Misereor vorsitzt. Schuld daran sei nicht zuletzt der von Russlands Präsident Wladimir Putin entfachte Krieg gegen die Ukraine.
Auf beide Länder zusammen entfallen etwa 20 Prozent der weltweiten Weizen- und 30 Prozent der Maisexporte. Bei Sonnenblumen und dem daraus gewonnen Öl ist die Ukraine mit weitem Abstand die Nummer eins. So viel steht bereits fest: Der Krieg wird die Ernten einbrechen lassen.
„Das Wintergetreide müsste jetzt gedüngt und behandelt werden“, erklärt zu Löwenstein, der bis 2014 das Hofgut der Familie im hessischen Habitzheim bewirtschaftete. In diesen Tagen werde üblicherweise das Sommergetreide ausgesät. „Spätestens Ende April, Anfang Mai sind dann Mais und Sonnenblumen an der Reihe.“ Kriegsbedingt wird dies alles in Russland und der Ukraine nur mit großen Einschränkungen stattfinden.
Während Verbraucher in Deutschland sich über Hamsterkäufe von Sonnenblumenöl wundern und ein Plus bei den Lebensmittelausgaben von drei bis vier Prozent befürchten, stehen Menschen in anderen Teilen der Welt vor weitaus existenzielleren Problemen. „Für sie bedeutet die Preisentwicklung den Unterschied zwischen satt werden und Hungern“, bringt es zu Löwenstein auf den Punkt.
Das von Cem Özdemir (Grüne) geführte Bundeslandwirtschaftsministerium hat ein Bündel an Maßnahmen angekündigt, um auf die Krise zu reagieren. So will Deutschland im Rahmen seiner G7-Präsidentschaft darauf hinwirken, die Märkte offenzuhalten, um weiteren Preissteigerungen entgegenzuwirken.
Zugleich appellieren Özdemir und Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) an die Bürger, weniger Fleisch zu essen. Der Grund: 60 Prozent der europäischen Getreideproduktion werden an Tiere verfüttert. Die Botschaft: Verzichten die Menschen hierzulande auf Würstchen, Schnitzel und Co, stehen mehr Weizen, Gerste oder Mais für alle zur Verfügung.
Klingt gut – aber die Argumentation hat einen Haken, findet zu Löwenstein: „Selbst wenn alle weniger Fleisch essen, würde zunächst einmal kein Tier weniger im Stall stehen“, gibt er zu bedenken. Stattdessen schlägt er vor, die Bestände an Rindern, Schweinen und Geflügel zu verringern.
„Man beginnt, dem Ferkelerzeugern den entgangenen Gewinn für Sauen, die er nicht mehr decken lässt, zu erstatten“, erläutert zu Löwenstein das Prinzip am Beispiel der Schweinemast. „Nach 16 Wochen gibt es dann entsprechend weniger Ferkel. Ab diesem Moment zahlt man Schweinemästern Geld dafür, dass sie ihrer Ställe zu Teilen leer stehen lassen.“
Weil der Markt dann genau wisse, ab wann die Getreidenachfrage sinke, würden auch die Preise sinken, so der Agrarwissenschaftler. „Denn jetzt muss man nicht mehr mit einer Versorgungslücke rechnen.“ Voraussetzung sei, dass der Staat diese Maßnahme verordne und sie zeitlich begrenze. So hätten Landwirte beispielsweise aus Südamerika keinen Anreiz, ihrerseits die Fleischproduktion hochzufahren.
Das Bundeslandwirtschaftsministerium hält solche und ähnliche Vorstöße für „wenig zielführend“. Vielleicht, weil der Staat dafür eine Menge Geld in die Hand nehmen müsste. Und weil Fleisch zugleich deutlich teurer würde.
Hilfsorganisationen dagegen wie die Welthungerhilfe und Misereor sehen die Angelegenheit ähnlich wie zu Löwenstein. Man setze sich „mit Nachdruck dafür ein, dem Hunger der Menschen Vorrang vor der Herstellung tierischer Produkte und der Produktion von Agroenergie zu geben“, erklärt etwa Misereor-Chef Pirmin Spiegel.
Unterstützung kommt auch vom Bonner Agrar- und Entwicklungsexperten Joachim von Braun, der das wissenschaftliche Beratungsgremium für den UN-Ernährungsgipfel im vergangenen Herbst leitete. Die Zeit drängt. Aktuell gehen Wissenschaftler von bis zu 811 Millionen Hungernden in der Welt aus. Zu Löwenstein fürchtet: Bald schon könnte die Marke von einer Milliarde übersprungen werden.
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