Studentin über Leben als Zwangsprostituierte
Frauen ‐ Laut den Vereinten Nationen werden jährlich 700.000 Mädchen und Frauen zu Sexarbeit gezwungen. Auch Sandra Norak erlitt dieses Schicksal. Warum sie den deutschen Staat für mitschuldig daran hält.
Aktualisiert: 18.10.2019
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Laut den Vereinten Nationen werden jährlich 700.000 Mädchen und Frauen zu Sexarbeit gezwungen. Auch Sandra Norak erlitt dieses Schicksal. Warum sie den deutschen Staat für mitschuldig daran hält.
Bis zu 20 Freier am Tag habe sie gehabt, erzählt Sandra Norak. Die 30-Jährige, die eigentlich anders heißt und in Süddeutschland lebt, wurde nach eigenen Angaben sechs Jahre lang gezwungen, sich zu prostituieren. „Mit ungefähr 16 habe ich im Internet einen Mann kennengelernt“, sagt sie. „Der Vater weg, die Mutter psychisch krank – da war ich leicht ansprechbar für emotionale Nähe. Doch diese Nähe war nur vorgespielt.“
Die Wahrheit: „Mein vermeintlicher Freund entpuppte sich nach einiger Zeit als Loverboy“, berichtet Norak. „Ihm ging es nur darum, mich in ein Abhängigkeitsverhältnis zu bringen, dann an die Prostitution heranzuführen und später ausbeuten zu können.“ Der Mann sei irgendwann mit ihr in ein Bordell gegangen und habe gesagt, Prostitution sei doch ein ganz normales Gewerbe. „Ich könne das doch auch mal ausprobieren, schlug er vor. Er habe nämlich Schulden, ich sei die Einzige, die ihm helfen könne. Falls nicht, könnten wir nicht zusammen sein. Und ich war ja in ihn verliebt.“
Sandra Norak schildert ihre Erfahrung bei einer Fachtagung zu Zwangsprostitution in Augsburg. Pünktlich zum Europäischen Tag gegen Menschenhandel am 18. Oktober hat dazu die Akademie für Politik und Zeitgeschehen der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) geladen. Sie richtet das Forum mit dem Aktionsbündnis gegen Frauenhandel und dem katholischen Osteuropa-Hilfswerk Renovabis aus.
Zur Motivation sagt HSS-Referentin Susanne Schmid: „Wir wollen mehr Bewusstsein für Opfer schaffen.“ Denn der Menschenhandel zum Zwecke sexueller Ausbeutung blühe. Die Vereinten Nationen sprächen von bis zu 700.000 Mädchen und Frauen, die jährlich zu Zwangsprostituierten gemacht würden, ergänzt Burkhard Haneke. Der Renovabis-Geschäftsführer fügt hinzu: „Die Betroffenen werden immer jünger.“
Die promovierte Therapeutin Ingeborg Kraus, eine Referentin, betont: „Es gibt heute auf der Welt und in Deutschland so viele Sexsklavinnen wie nie zuvor.“ Christiane Nischler-Leibl vom bayerischen Sozialministerium unterstreicht: „Es gehört zur Prävention, über dieses Thema offen zu sprechen.“
Sandra Norak tut das – indem sie dem deutschen Staat eine Mitschuld an der Zwangsprostitution gibt: „Wenn er von 'sexuellen Dienstleistungen' spricht und deren Kauf als legal ansieht, bagatellisiert er ein Metier, in dem Frauen zu Waren degradiert werden.“ Die deutsche Gesetzgebung sei ein „Push-Faktor für Menschenhandel“. Wünschenswert sei ein Wandel zum skandinavischen Modell, das den Kauf von Sex, aber nicht dessen Anbieterinnen bestrafe.
„Jeder Freier beteiligt sich an der Zerstörung von Leben“, meint Norak. „Als Prostituierte wird man täglich zerstört, da man ständig Geschlechtsverkehr hat, den man gar nicht haben will. Prostitution und Vergewaltigung sind nur durch ein paar Scheine getrennt.“ Betroffene Frauen entwickelten oft posttraumatische Belastungsstörungen, flüchteten sich in Drogen, stürben jung.
Bei Norak kam es anders. „Für viele Prostituierte ist es schwer, sich als Opfer zu sehen. Auch mir wurde erst allmählich klar, dass ich ausgebeutet wurde“, erzählt sie. Irgendwann sei sie bei ihrem Loverboy aus- und direkt ins Bordell eingezogen. Dort habe sie andere Frauen kennengelernt, sich emanzipiert. „Dann habe ich Fernkurse belegt, um mein Abitur nachzuholen – ich hatte ja die Schule geschmissen.“
Schließlich verließ Norak das Milieu. „Aus eigener Kraft. Aber man wollte mich auch nicht mehr. Ich hatte damals Panikattacken, war somit unbrauchbar – und mit 23, 24 auch eh langsam zu alt.“
Solche Sätze über ihr eigenes Schicksal spricht Norak sachlich, ebenso folgende Erkenntnis: „Ich habe jeden Typ Mann als Freier erlebt – besonders viele Familienväter.“ Mit Nachdruck hingegen füllt Norak ihren Appell: „Ich rede über mich nicht, weil ich Mitleid will“, ruft sie und pocht aufs Pult. „Sondern weil ich Aufmerksamkeit für das Thema Prostitution will.“
Heute studiert Sandra Norak Jura. „Ich will mir Handwerkszeug aneignen, um gegen die Missstände, in denen ich gelebt habe, vorgehen zu können“, erklärt sie. „Und ich will verhindern, dass jemand anderes meinen Lebensweg gehen muss.“