Lateinischer Patriarch von Jerusalem, Erzbischof Pierbattista Pizzaballa
Katholischer Patriarch von Jerusalem zur Lage im Heiligen Land

„Nicht mehr Spaltungen und Spannungen schaffen“

Jerusalem ‐ Der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Erzbischof Pierbattista Pizzaballa, blickt mit Sorge, aber ohne Angst, auf die bevorstehende Regierungsbildung in Israel.

Erstellt: 22.12.2022
Aktualisiert: 20.12.2022
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Von Andrea Krogmann (KNA)

Mit Sorge, aber ohne Angst, blickt der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Erzbischof Pierbattista Pizzaballa, auf die bevorstehende Regierungsbildung in Israel. Offen aggressive Aussagen einiger Koalitionsmitglieder bedrohten „das ohnehin fragile Gefüge der multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft“, sagt er im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Jerusalem. Als Bischof wolle er Vertrauen schaffen in einem Land, in dem es an Vertrauen in weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens fehle.

Frage: Herr Erzbischof, gerade waren Sie in Gaza. Wie geht es den Christen dort?

Pizzaballa: Ich habe trotz aller Probleme im Gazastreifen eine sehr lebendige, geeinte und heitere Gemeinde angetroffen, die eine positive Haltung hat und präsent ist. Selbstverständlich legt die Kirche ein großes Engagement an den Tag, um die christliche Präsenz mit vielen Aktivitäten zu unterstützen, aber es ist nicht nur dies. Ich habe eine Gebetsgemeinschaft angetroffen.

Frage: Nach Jahren des Rückgangs der Katholikenzahlen ist die Gemeinde zuletzt gewachsen.

Pizzaballa: Das stimmt. Es sind einige Christen zurückgekommen, vor allem aber sind viele Kinder geboren worden. Bei jedem Besuch feiern wir Taufen, und das ist schön. Zu den Aktivitäten für Kinder in der Gemeinde kommen mehr als 70 Kinder, wenn auch nicht alle katholisch sind.

Frage: Israel steht kurz vor der Bildung einer neuen, rechten Regierung. Was sind Ihre Gedanken dazu?

Pizzaballa: Als katholische Bischöfe haben wir uns unlängst dazu geäußert. Wir haben keine Angst, aber wir sind besorgt. Es gibt einige Koalitionsmitglieder wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, die sehr offen aggressiv gegen Nichtjuden und gegen die arabische Gesellschaft sprechen. Ihre Haltung ist rassistisch und damit problematisch. Es bedroht das ohnehin fragile Gefüge der multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft. Die Regierung sollte sich für einen Erhalt dieses Gefüges einsetzen, nicht mehr Spaltungen und Spannungen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen schaffen.

Frage: Erwarten Sie mehr offene Anfeindungen gegen Christen?

Pizzaballa: Palästinensische Christen sind Palästinenser und Christen, das kann man nicht trennen. Sie sind Teil der arabischen Gesellschaft. Ich denke nicht, dass es Absichten gegen Christen als Christen gibt, aber wohl gegen Palästinenser.

Frage: Der griechisch-orthodoxe Patriarch von Jerusalem, Theophilos III., und die von ihm initiierte Gruppe „Protecting Holy Land Christians“ haben schwere Vorwürfe bezüglich des Umgangs mit Christen im Heiligen Land erhoben, die bis zu Christenvertreibung und -verfolgung reichen. Teilen Sie diese Ansicht?

Pizzaballa: Das ist nicht meine Sprache. Für mich ist Verfolgung verbunden mit dem Islamischen Staat (IS), mit dem, was in Irak, Syrien, Nigeria und an anderen Orten passiert. Hier würde ich nicht dieselbe Terminologie verwenden. Es gibt eine Vision, die die jüdische Präsenz betrifft. Wir Christen sind ein Kollateralschaden. Nehmen wir den Nationalpark am Ölberg zum Beispiel. Ich denke nicht, dass sich dieser Plan gegen Christen richtet, sondern dass es darum geht, die jüdisch-religiöse Verbindung zur Stadt Jerusalem zu stärken.

Das hat Auswirkungen auch auf unsere heiligen Stätten, aber ich denke nicht, dass es einen Plan gegen christliche heilige Stätten gibt. Das macht es nicht einfacher, ist aber nicht Verfolgung im Sinne einer klaren Strategie gegen jemanden. Gleichzeitig kann man nicht leugnen, dass es Gruppen etwa von Siedlern gibt, die klar gegen Christen sind. Aber das entspricht nicht der allgemeinen Haltung des Staates.

Frage: Das Jahr 2022 aus Perspektive des Lateinischen Patriarchen?

Pizzaballa: Es gäbe viele Aspekte zu beleuchten, kirchlich, politisch, weltpolitisch, sozial. Aus unserer Innenperspektive war es ein positives Jahr mit vielen Veränderungen. Wir haben zwei neue Bischöfe, was eine neue Dynamik mit sich bringt. Wir haben das Vikariat von Zypern neu geordnet, was mit neuen Herausforderungen einhergeht. Zypern ist ein sensibler Ort, etwa mit Blick auf den Menschenhandel. Wir haben endlich die finanziellen Herausforderungen der Vergangenheit bewältigen können und neue pastorale Aktivitäten begonnen. Auch wenn vieles noch in der Vorbereitung ist, war es ein fruchtbares Jahr.

Die Rückkehr der Pilger nach der Pandemie hat eine Normalität in das Leben unserer Gemeinschaft zurückgebracht. Unser Bistum hat zwei Lungen, die einheimischen Christen und die Pilger, und jetzt haben wir wieder mehr Luft. Persönlich habe ich das Gefühl, dass ich einen noch stärkeren Fokus auf den Besuch von Pfarreien legen muss, vor allem in Jordanien und Nordisrael.

Frage: Haben Sie das Gefühl, dass in Ihrem Bistum Einheit herrscht?

Pizzaballa: Zunächst muss man sagen, dass Einheit nicht mit Uniformität gleichgesetzt werden darf. Was unser Bistum einzigartig macht, ist, dass es vier Länder mit sehr unterschiedlichen Gesellschaften umfasst. Jordanien und Palästina sind islamische Mehrheitsgesellschaften, Israel ist jüdisch geprägt und Zypern griechisch-orthodox. Wir setzen uns zusammen aus verschiedenen Arabern, wir haben Hebräischsprachige, Arbeitsmigranten, Griechen, Türken, Pilger. Bei keinem Treffen im Bistum gibt es eine gemeinsame Sprache, wir brauchen immer Übersetzer.

Dazu kommen die Grenzen, die seit Generationen nicht durchlässig sind für unsere Gläubigen. Wenn ich ein Bistumstreffen an meinem Amtssitz in Jerusalem machen würde, könnte keiner kommen. Einheit ist also offenkundig eine Herausforderung. Wir müssen uns fragen, was uns verbindet. Jesus natürlich, aber das gilt für die Weltkirche. Jerusalem, aber auch das muss in etwas Konkretes übersetzt werden. Letztlich ist es meine Rolle als Bischof, Garant der Einheit zu sein, und deshalb muss ich präsent sein in allen Teilen des Bistums.

Bild: © Andrea Krogmann/KNA

Frage: Jerusalem muss in etwas Konkretes übersetzt werden. Was heißt das?

Pizzaballa: Wir brauchen eine neue Sprache. Wir wiederholen viele richtige Dinge, aber das reicht nicht. Jerusalem ist nicht nur die Frage der Grenzen zwischen Israelis und Palästinensern. Es ist auch der religiöse Aspekt, der Teil der Identität der Stadt ist. In dieser Hinsicht sind Juden und Muslime sehr klar, wir Christen sind es nicht. Wir müssen einen konkreteren, systematischeren christlichen Diskurs über Jerusalem entwickeln.

Das heißt nicht, dass wir Jerusalem erobern und beherrschen müssen, sondern wir müssen die Frage beantworten, warum Jerusalem für Christen wichtig ist. Dass wir hier sind, ist kein Unfall, sondern Vorsehung. Aber was bedeutet das? Israels Jerusalempolitik ist mit der religiösen Sicht verbunden, während wir bisher vor allem vom palästinensischen politischen Standpunkt aus über Jerusalem sprechen. Das darf nicht der einzige Punkt bleiben.

Frage: Wie wollen Sie diese Idee in etwas Konkretes übersetzen?

Pizzaballa: Ich habe mit dem Schreiben eines Pastoralbriefes unter anderem zu diesem Thema begonnen, der hoffentlich im Januar fertig sein wird. Als Bischof ist eine meiner Aufgaben, Vertrauen zu bilden. Was uns in diesem Land fehlt, ist Vertrauen. Ein fehlendes Vertrauen in der Politik hat einen Dominoeffekt auf andere Teile des gesellschaftlichen Lebens gehabt, auf den wir reagieren müssen.

KNA